Thema der Sektionstagung Erwachsenenbildung 2024
TagungsthemaTeilhabe durch Teilnahme? Erwachsenenbildung und Weiterbildung zwischen Partizipation und Exklusion
Bildung für alle zu ermöglichen ist ein gesellschaftlicher Auftrag an Erwachsenen-/Weiterbildung und struktureller Anspruch an ein System des Lebenslangen Lernens. Beides ist seit jeher grundlegend für Verständnis und Ausgestaltung von Wissenschaft und Praxis der Erwachsenen-/Weiterbildung und knüpft an zentrale Traditionslinien im Selbstverständnis von Disziplin und Profession an. Mit dem interdisziplinär verorteten Begriff der Partizipation werden Struktur- und Handlungsebene, d. h. das Gefüge aus Teilhabe an Gesellschaft sowie Teilnahme an Lernen und Bildung, zusammengedacht, miteinander verschränkt und in ihrer gegenseitigen Bedingtheit als Spannungsfeld aufgeworfen: Teilnahme bedeutet nicht automatisch Teilhabe, genauso können Teilnahme und Teilhabe zwar strukturell vorgesehen und rechtlich gerahmt, realiter aber in den Lebenswelten von Erwachsenen als widersprüchlich sowie wenig zugänglich und sinnvoll wahrgenommen werden. So verwies bereits Hans Tietgens (bezogen auf die Situation der Erwachsenenbildung zu Beginn des 20. Jahrhunderts) mit der Begrifflichkeit von „Teilhabe und Zähmung“ (Tietgens 2018) auf mögliche Gefahren der Instrumentalisierung von Teilnahme an Erwachsenen-/Weiterbildung und markierte damit mögliche Widersprüche.
Entsprechend begleitet die Erwachsenen-/Weiterbildung von den Anfängen ihrer organisierten bis hin zu informellen Ausgestaltungen die Aushandlung zwischen dem Anspruch einer Bildung für alle und den Realitäten sowie empirischen Befunden zur Frage, wer tatsächlich erreicht wird bzw. erreicht werden soll – und mit welchem Ziel.
Das empirische Aufdecken von Teilnahmestrukturen und Gründen für eine Nie-/Nicht-/Teilnahme hat dabei zum einen zu verschiedenen makro- und mikrodidaktischen Konzepten geführt wie etwa Teilnehmenden-, Adressat:innen-, Zielgruppen- und Milieuorientierung, die weiterhin zentrale Bezugspunkte für erwachsenenbildungswissenschaftliche Diskussionen und Forschung sowie Praxisformate bilden. Zum anderen war dies stets eingebettet in theoretische Überlegungen, die Nie-/Nicht-/Teilnahme etwa mit Kosten-/Nutzenerwägungen, soziokulturell gerahmten Passungskonstellationen, subjektiven Dispositionen oder aus regulativen Faktoren heraus zu erklären suchten. Zur Suche nach den subjektiven Interessen und Motiven für eine Teilnahme, die lange Zeit unhinterfragt als erstrebenswert gesetzt wurde, sowie zur Bedeutung von Teilnahme, sind dabei ergänzend Überlegungen zur Nie- und Nichtteilnahme oder auch zu Barrieren und Hindernissen der Teilhabe getreten. Sie sind sichtbar gemacht worden in Begriffen wie Weiterbildungsabstinenz, Weiterbildungswiderstand oder auch im Konzept der Weiterbildungsregulation und haben kritische Rückfragen an politische und ökonomische Forderungen nach (mehr) Weiterbildungsteilnahme und damit verbundener Teilhabe eröffnet.
Die umrissenen Problemstellungen und Akzente wurden zuletzt beispielsweise im Diskurs um Grundbildung und Alphabetisierung Erwachsener mit der bildungspolitisch gesetzten AlphaDekade (2016-2026) aktuell, gleichfalls in Debatten um eine inklusive Bildung, Migration oder auch Chancen und Grenzen der Digitalisierung. Zur Verhandlung stehen partizipationseröffnende Konzepte, Instrumente, Mechanismen und Praxisformate genauso wie die Beharrlichkeit von sich reproduzierenden Exklusionsfaktoren und -wirkungen, da Inklusionsbemühungen immer auch mit Exklusionsmechanismen und -erfahrungen einhergehen können. Exkludierende Angebote, bspw. für bestimmte Zielgruppen, sind zugleich nicht per se als erwachsenenpädagogisch unzulänglich abzuwerten. Eingeschränkt zugängliche Formate wie z. B. Selbsthilfegruppen oder Selbstorganisationen bestimmter Kollektive können vielmehr wichtige Bausteine für kollektives Engagement und Empowerment über formale, non-formale und/oder informelle Lern- und Bildungsprozesse darstellen. Auch in der betrieblichen Weiterbildung folgt die Gestaltung von Beteiligungsmöglichkeiten anderen Prinzipien, wenngleich hierüber für viele Erwachsene eine (regelmäßige) Nutzung von Lernmöglichkeiten gegeben ist. Diese Spannungsfelder und Dilemmata spiegeln sich im Ruhrgebiet als Austragungsort der Sektionstagung mit seiner typischen heterogenen sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung und haben hier eine besondere Tradition, was sich in Konzepten der „Arbeiterbildung“, einer Adressat:innenschaft mit Migrationsgeschichte bzw. Migrationserfahrung und einer diversifizierten Landschaft der Erwachsenen-/Weiterbildung bis heute zeigt. Die Jahrestagung kann vor diesem Hintergrund als Möglichkeit zu einer konstruktiven disziplinären Auseinandersetzung mit Fragen von Partizipation und Exklusion und vor allem ihrer kritischen Weiterentwicklung dienen.