Pressemitteilung der Universität Duisburg-Essen

Ohrwürmer als Promotionsthema

Fliegende Faltkünstler

[07.04.2015] Ohrwürmer kennt fast jeder, fliegen gesehen hat sie fast niemand. Und doch gehören sie zu den Fluginsekten und haben unter ihren ledrigen Vorderflügeln kompakt gefaltete häutige Hinterflügel. Die Diplom-Biologin Julia Deiters, promoviert über sie an der Universität Duisburg-Essen (UDE) und untersucht im Westfälischen Institut für Bionik in Bocholt deren Falttechnik und aerodynamischen Flugeigenschaften. Ihr Ziel ist es, die Technik und den Energieverbrauch fliegender Ohrwürmer zu bestimmen und sie für technische Anwendungen zu simulieren.

Für Julia Deiters war es Liebe auf den ersten Blick, als sie zum ersten Mal einen Ohrwurm in Großaufnahme auf einem Foto sah. „Mit den Tieren will ich arbeiten“, sagte sich die Biologin, die den Studiengang Bionik an der Westfälischen Hochschule (WH) in Bocholt mit aufgebaut hat. Seit 2013 verbringt sie auch viel Zeit an der UDE, wo sie an ihrer Doktorarbeit schreibt. Ihre wissenschaftlichen Betreuer sind Dr.-Ing. Wojciech Kowalczyk, Professor für Biomechanik an der UDE, sowie die Professoren Tobias Seidl und Martin Maß (WH).

Zunächst hat Julia Deiters die Flügel der Ohrwürmer aufwendig vermessen. Aufgespannt können sie ihre Fläche bis zum 20-fachen vergrößern. Zum Aufspannen verwenden sie drei verschiedene Techniken: Die Flügel werden erst quer-, dann längs-, und schließlich fächerförmig entpackt. „Ich kenne kein Insekt, das so wie der Ohrwurm gleich drei verschiedene Klapptechniken verwendet“, so Deiters, „die meisten anderen verwenden maximal zwei Falttechniken.“

Der Ohrwurm hat außerdem Resilin in den Flügeladern, ein gummiartiges Protein, das sich auf seine dreifache Länge dehnen lässt und so die Flügelentfaltung unterstützt. Zum Auseinanderziehen nutzt er außerdem seine Hinterleibszangen. Insgesamt also ziemlich aufwendig: Schuppen anheben, Flügel schütteln, Flügelhaut ausstreifen, Versteifungsgelenke einrasten, losspringen, fliegen. Bis zu eineinhalb Minuten kann der Vorgang dauern, vielleicht ist der Ohrwurm daher so flugfaul.

„Als Fluchttechnik eignet sich das Fliegen für den Ohrwurm jedenfalls nicht“, so Julia Deiters, „dafür ist er viel zu langsam. Selbst die Fruchtfliege ist viermal so schnell.“ Warum fliegt er überhaupt? „Ein Grund könnte sein, dass man sich so besser ein neues Territorium erobern kann“, so Deiters. Das Problem der Forscherin liegt eher darin, das Tier überhaupt zu animieren, die Flügel auszufalten und sich dabei beobachten zu lassen.

Mit Hochgeschwindigkeitskameras aus drei Richtungen hat sie den Ohrwurm beim Flugstart gefilmt und die Falttechnik dokumentiert. Als nächstes will Julia Deiters die aerodynamischen Flugeigenschaften der Flügel genauer untersuchen. Ist der Ohrwurm erst mal losgeflogen, entwickelt er einen gemächlichen, für seine Größe eher langsamen Flug. Andererseits kann er sehr flexibel und präzise starten, fliegen und landen. Deiters: „Das sieht richtig klasse aus, wie ein Paraglider. Und manchmal hat er sogar die Eleganz einer Ballerina.“

Neben der persönlichen Begeisterung für die Spezies will Julia Deiters am Ende dazu beitragen, die Falt- und Flugtechnik der Ohrwürmer rechnergestützt zu simulieren. Es geht darum, den Energieverbrauch zu berechnen und damit eine Basis für technische Anwendungen zu legen. Ihre Forschungsergebnisse interessieren zum Beispiel die Autoindustrie, die damit insbesondere Cabrio-Faltdächer optimieren könnte. Auch die Solarmodule von Weltraumfahrzeugen oder Flugroboter ließen sich damit verbessern.

Nächstes Jahr, so hofft Julia Deiters, hat sie ihren Dr.-Ing.-Titel in der Tasche – ihr größter Traum als Grenzgängerin zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen. Bis dahin hatte sie mit mehr als 200 Ohrwürmern Kontakt, die sie alle eigenhändig in Misthaufen aufgespürt hat. Ihre Hoffnung: Demnächst möchte sie ihre Forschungsobjekte gern im Duisburger Zoo aufstöbern. Grünes Licht dafür hat sie bereits.

Weitere Informationen: Julia Deiters, Tel. 02871/2155-967, Julia.Deiters@w-hs.de

Redaktion: Barbara Laaser, Tel. 0209/9596-458, Beate Kostka, Tel. 0203/379-2430


Bildhinweis:
Ein Foto zu dieser Pressemitteilung (Bildbeschreibung: Julia Deiters beim Ohrwurmsammeln sowie Aufnahmen von einem Ohrwurm und dessen Flügel (Bildnachweis: Julia Deiters)) können Sie herunterladen unter:
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