Nachwuchsprobleme plagen Hochschulen und Industrie in Bezug auf die Ingenieurwissenschaften. Doch was ist mit den jungen Frauen und Männern, die den Weg an die Hochschule und dazu noch in ein technisches Fach gefunden haben? Wie ergeht es ihnen beim Studium? Warum brechen es so viele enttäuscht ab? Warum finden sich unter den AbbrecherInnen tendenziell mehr Frauen als Männer? (Derboven/Winkler 2010: 58) Hochschulen stehen hier vor einem Problem: Angesichts eines wachsenden politischen Drucks bezüglich der Umgestaltung technischer Studiengänge müssen sie möglichst rasch neue Konzepte entwickeln, um die Abbruchquoten zu senken. Nach wie vor ist aber zuwenig über die Gründe für den Studienabbruch in den Ingenieurwissenschaften bekannt. Es fehlen differenzierte Daten über Konflikte im Uni- und Lernalltag und die Leistungsvoraussetzungen der AbbrecherInnen.

Forschung

Eine von 2005-2008 durchgeführte Studie von Prof. Dr. Gabriele Winker, Dr. Andrea Wolffram und Dipl.-Ing. Wibke Derboven der TU Harburg ergründete die Ursachen vn Studienabbrüchen. Das Forscherinnenteam interviewte 25 Abbrecherinnen und 15 Abbrecher der TU 9-Universitäten. Auf Basis der Ergebnisse führte das Forscherinnenteam eine Online-Befragung mit 700 Teilnehmenden durch. Im Vordergrund standen fachliche und soziale Erfahrungen in „typischen Studiensituationen“, also Vorlesungen, Übungen, Tutorien, Laboren u. ä.

Ein zentrales Ziel war es außerdem, herauszufinden, warum tendenziell mehr Frauen als Männer ein technisches Studium abbrechen. Die Gefahr bei einer solchen Herangehensweise ist es, Stereotype zu produzieren. Dem sollte durch das Untersuchungsdesign begegnet werden: „Die Daten wurden deshalb nicht - wie üblich - einfach nach Frauen und Männern getrennt ausgewertet. Erst nach einer Typisierung der Studienabbrechenden entlang der zentralen Studienkonflikte wurde geschaut, wie die Geschlechterverteilung in diesen Typen aussieht und ob Männer bzw. Frauen signifikant höher vertreten sind.“

Ausgangsüberlegungen
Die Ingenieurwissenschaften haben ein gutes Image in Hinblick auf spätere Karrierechancen und Jobsicherheit. Das Image in Hinblick auf die Studieninhalte hält sich dafür eher in Grenzen. ‚Staubtrockene’ Formeln, hohe Hürden („Aussieben“) etc. Diese fehlende „Eigenattraktivität“ des Studiums hängt aus Sicht der Forscherinnen auch mit den hohen Studienabbruchquoten und der geringeren Attraktivität der Fächer insgesamt zusammen (S. 57).  Es sind weniger die Broschüren der Hochschulen, die das Image prägen, sondern die Erfahrungen ehemaliger Studierender. Eine Umgestaltung des Studiums wird, so die Annahme der Forschungsgruppe, nicht nur geringere Abbruchquoten produzieren, sondern auch die BewerberInnenzahlen steigern.

Ergebnisse
Eine häufige Annahme über Studienabbrüche ist die mangelnde Qualifikation der Studierenden, z. B. in Hinblick auf ihre mathematischen Fähigkeiten. Dies widerlegte die Studie. Die Mehrheit hat insgesamt sehr gute Voraussetzungen: 80% belegten entweder einen Mathematik- und/oder Physikleistungskurs, 60% waren sich ihrer Studienwahl sehr sicher oder brachten Bastel- oder Reparaturerfahrungen mit. Etwa 25% hatte ein sehr gutes bis gutes Abitur mit einer Durchschnittsnote im 1er bis oberen 2er-Bereich. Jedoch das „größte Zutrauen“ das Studium schaffen zu können, ziehen sowohl Männer als auch Frauen, aus dem persönlichen Selbstbild: Sie wissen, dass sie eine rasche Auffassungsgabe haben und bringen die Überzeugung mit, dass „sie bisher Dinge, die sie angepackt haben“, auch schafften (S. 62). Männer trauen sich das Studium signifikant häufiger wegen praktischer technischer Kompetenzen zu, Frauen aufgrund mathematischer Kompetenzen. Das Argument, Defizite in den Studienvoraussetzungen seien der Grund für Abbrüche, konnte mit der Studie entkräftet werden.

Um die Gründe für Studienabbrüche besser zu verstehen, gilt es nach den Lernbedürfnissen von Studierenden und den sich hieraus entwickelnden Konflikten zu fragen. Zusammenfassend wird festgestellt, dass für den Studienabbruch folgende Faktoren eine entscheidende Rolle spielen: Leistungsdruck und Formellastigkeit bzw. mangelnde Berufsrelevanz der Studieninhalte. Darüber hinaus demotivieren eine mangelnde Betreuung und mangelnde Studienerfolge. In der Gewichtung folgen die Orientierung der Lehrkultur an den Leistungsstarken und Unruhe in den Vorlesungen. Am wenigsten demotivieren ineffektive Lerngruppen, mangelnde Zusammengehörigkeit und Frauendiskriminierung. Diese Befunde gelten sowohl für Männer als auch Frauen, jedoch zeigte die statistische Auswertung, dass Frauen stärker als Männer an mangelnden Studienerfolgen, der Orientierung an Leistungsstarken, ineffektiven Lerngruppen sowie einer fehlenden Zugehörigkeit leiden. Insgesamt, so betonen die Forscherinnen, verweisen die Daten auf hohe Gemeinsamkeiten zwischen Männern und Frauen in Bezug auf die Studienkonflikte.

Fazit
Die Gestaltung technischer Studiengänge muss überdacht werden. Lernstoff in seiner Präsentation teilweise ‚entformeln’ mit einer gleichzeitigen systematischen Herstellung konkreter Bezüge bereits im Grundstudium. Denn: „Ohne das Gefühl, dass man die Dinge nie wirklich versteht beziehungsweise nicht in ihren Zusammenhängen interpretieren kann, würden die schlechten Noten und der hohe Zeitaufwand wahrscheinlich weitaus weniger demotivierend wirken und weniger das Vertrauen ins eigene Können schwächen.“ (S. 74)

Quellen:

Derboven, Wibke; Winker, Gabriele (2010): „Tausend Formeln und dahinter keine Welt“. Eine geschlechtersensitive Studie zum Studienabbruch in den Ingenieurwissenschaften, in: Beiträge zur Hochschulforschung, Heft 1/ 2010. Online verfügbar unter:
http://www.bzh.bayern.de/uploads/media/1-2010-derbhoven-winkler.pdf

Handlungsempfehlungen

In der Diskussion ingenieurwissenschaftlicher Studiengänge steht die Frage der Gewinnung von Studentinnen im Vordergrund. Zunehmend wird auch danach gefragt, wie die jungen Frauen - aber auch Männer - gehalten werden können, ohne dass sie das Studium vorzeitig abbrechen. Innovativere und kreativere Studienmodelle, die Studierenden eine fördernde und wertschätzende Lernumgebung bieten, würden die Maßnahmen zur Gewinnung von Nachwuchs wirksam ergänzen. Die Devise könnte lauten: Alle mit ins ‚Boot’ nehmen, auch diejenigen, deren Leistungen schlechter sind bzw. sich im Mittelfeld befinden. Eine andere Studienstruktur und damit auch Kultur würde sich herumsprechen und möglicherweise noch mehr technikinteressierte Frauen und Männer an die technischen Fakultäten von Hochschulen locken.

Handlungsempfehlungen auf Grundlage einer wissenschaftlichen Begleitstudie des Bayrischen Staatsinstituts für Hochschulforschung (IHF):

1. Maßnahmen am Übergang von der Schule in die Hochschule etwa durch Propädeutika, Brückenkurse, Programmierkurse, Online-Self-Assessment, Orientierungskurse und Vorpraktika

2. Maßnahmen in der Studieneingangsphase und im weiteren Studienverlauf: Kennenlern-Veranstaltungen in denen Lerngruppenbildung institutionalisiert ist. Abbau fachlicher Defizite durch z.B. benotete Zwischentests, die zur Einschätzung des Leistungsstands dienen, aber nicht gewertet werden; „„Wiederholungsprüfungen zum Ende der vorlesungsfreien Zeit bzw. in der ersten Woche des nächsten Semesters, „„semesterbegleitende, bzw. antizyklische sowie prüfungsvorbereitende (Wiederholungs-)Tutorien.

3. Übergreifende strukturelle Maßnahmen: Einrichtung räumlicher Angebote (wie z. B. den „offenen Matheraum"), in dem die Studierenden selbst organisiert alleine oder in Gruppen mit Unterstützung von Tutoren die ihnen gestellten Aufgaben bearbeiten und lösen können.

Quelle: Gensch, Kristina; Kliegl, Christina (2012): Studienabbruch in MINT-Fächern - welche Gegenmaßnahmen können Hochschulen ergreifen?, (= Studien zur Hochschulforschung 80) München.

 

Weiterführende Infos

... zur Studiengangsgestaltung

2002 verabschiedete die Bund-Länder-Kommission (BLK) für Bildungsplanung und Forschungsförderung Empfehlungen für Schule und Hochschule für die weitreichende Steigerung der Frauenanteile in den technik- und naturwissenschaftlichen Studiengängen. Weitere Infos und den entsprechenden Bericht zum Downloadfinden Sie hier.

... im Gender-Portal

==> Der Zusammenhang von Gender, Naturwissenschaft & Technik

==> Historische Entwicklung des Ingenieurberufs

==> Kindheit/Schulzeit – Sozialisation

==> Technikbilder und -mythen

==> Technik und Gesellschaft

==> Wirkung von Girls' Day und Co.

Bildnachweis

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