Demokratische Ansätze zur Entschärfung einer zunehmend politisch polarisierten Gesellschaft

Kongressbericht 3: Demokratische Ansätze zur Entschärfung einer zunehmend politisch polarisierten Gesellschaft

von Jan-Erik Lutz

Bürgerinnen und Bürger besitzen in der digitalisierten und vernetzten Welt mehr Möglichkeiten denn je, um ihre Meinungen zu äußern. Einige zusätzliche positive Effekte sind dabei, dass politische Minderheiten sich ein globales Gehör verschaffen können oder soziale Bewegungen mit wenig Ressourcenaufwand eine große Reichweite erzielen. Jedoch ist im 21. Jahrhundert eine Überfülle an Informationen entstanden, die durchaus kontraproduktiv auf die Demokratie wirken und die Kommunikation zwischen Politik und Bürger:innen erschweren kann.

Politische Signale dringen aus der Bevölkerung nur noch vereinzelt durch den medialen Lärm zur Regierung. Umgekehrt ist die Bevölkerung mit der täglich neu erscheinenden Nachrichtenmenge – schon allein aus rein zeitlichen Gründen – überfordert. Teile der Bürger*innen geraten durch eine begrenzte Informationsaufnahme in abgekoppelte Echokammern. Es wird übereinander, aber nicht miteinander gesprochen. Dabei benötigt jede politische Gemeinschaft andauernde Diskussionen, damit ihr pluralistisches Zusammenleben weiterhin bestehen bleibt. Auch führt die kommunikative Überlastung zu einem deutlichen Rückgang der zivilisierten Höflichkeit und zu verkürzten Argumentationen, welche den gegenwärtigen Gesellschaftsproblemen nicht gerecht werden und eine gesamtgesellschaftliche Lösungsfindung beeinträchtigen. Das Vertrauen der Bevölkerung in die demokratischen Institutionen verringert sich und gesellschaftliche Gruppen werden anfällig für eine postfaktische Politik.

Sowohl die kommunikative Überlastung als auch der unzivilisierte Umgang miteinander verstärken sich gegenseitig und erzeugen eine polarisierte Öffentlichkeit. Je polarisierter die politische Umgebung wird, desto weniger hören die Bürger*innen auf den Inhalt der Botschaften und desto größer wird die Gefahr, dass sie mehr antidemokratischen Vorschlägen folgen oder gar nicht mehr partizipieren. Beobachtern bereitet diese Entwicklung Sorgen, zumal es sich nicht um Einzelfälle bestimmter Staaten handelt, sondern um einen weltweiten Trend (Druckman et. al. 2013). Gleichzeitig kommt die Gefahr auf, dass demokratische Systeme ausgehöhlt und instabil werden.

Vor diesem Hintergrund richteten sich die Panelauswahl des 28. Wissenschaftlichen Kongresses der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft nach der Forschungsfrage Wie lässt sich eine zunehmen politisch polarisierte Gesellschaft mit demokratischen Ansätzen entschärfen? Dementsprechend wird in den Vorträgen nach Ansätzen gesucht, die eine zerstrittene Gesellschaft demokratisch wiederbeleben und das Vertrauen in demokratische Institutionen erneuern.

Sozialisierung demokratischer Konfliktfähigkeit

Als zentrales Entschärfungselement kristallisierte sich die Sozialisierung demokratischer Konfliktfähigkeit heraus. In polarisierten Gesellschaften lösen sich die Grenzen zwischen dem Politischem und Privaten immer mehr auf. Damit verschiebt sich die politische Auseinandersetzung in den individuellen Lebensbereich. Ein aufgeheiztes Gespräch verliert schnell an Rationalität und es kommt zu einem Aufeinandertreffen verhärteter Lebenswelten, welche die empathische Sozialität überlagert.

In diesem Zusammenhang untersuchte Dr. Astrid Séville (Ludwig-Maximilians-Universität München) Literatur, die antipopulistische Gegenstrategien enthielt. Dabei konnte sie identifizieren, dass es sich bei der Literatur des Antipopulismus um eine Übersetzung von Gesellschafts- und Demokratietheorien in praktische Verhaltensregeln für die Zivilgesellschaft handelt. Es geht um die demokratische Repolitisierung sozialer Interaktionen des Einzelnen, indem die Leser bzw. Bürger*innen herangeführt werden, ihre jeweiligen Anliegen versprachlichen zu können. im Wesentlichen zeigt sich eine Norm von empathischer Diskursivität. Der politische Gegner muss nicht nur anerkannt werden, sondern neben dem Sprechen und Streiten geht es vielmehr um den Versuch des Verstehens gegnerischer Motive. Von Relevanz ist die Entwicklung eines Empathievermögens das die Hintergrundaspekte irrationaler Argumente überwindet und eine gemeinsame Lebenswelt erzeugt.

Politisierte Debatten der Gegenwart zeigen, dass in Teilen unserer Gesellschaft ein Mangel an empathischer Diskursivität bzw. demokratischer Konfliktfähigkeit besteht. Die Konfliktfähigkeit wird als eine Handlungskompetenz angesehen, welche in politischen Diskursen bzw. Konfliktsituationen zur Geltung kommt. Somit ist die Anerkennung des Konflikts als demokratischer Bestandteil zu sehen. Die Dialektik von Konflikt und Konsens kann dabei vor allem durch die politische Bildung gefördert werden, deren Entwicklungspotenzial in praktischen Handlungserfahrungen in den Schulen zu generieren ist.

In diesem Kontext begleitete Dr. Steve Kenner (Leibnitz Universität Hannover) verschiedene Demonstrationen sowie Plenumssitzungen von Jugendlichen und führte mit mehreren von ihnen Interviews durch. Basierend auf den Erfahrungsberichten lässt sich konstatieren, dass die Schüler*innengruppen multiperspektivisch im Bezug auf ihre Forderungen und Ideen sind, was immer wieder zum Widerstreit, Konflikten und Aktionsformen innerhalb der Gruppe führt. Wissen und der kritische Umgang mit Quellen ist für sie Grundlage der politischen Arbeit, weil die entscheidende Kategorie die Glaubwürdigkeit ist, also das Überzeugen anderer durch glaubwürdiges Argumentieren.

Die Urteilsbildung wird von den Schüler*innen als eine authentische Erfahrung wahrgenommen. Politische Aktionen steigern ihre politische Selbstwirksamkeit und ihr Selbstbewusstsein. Zudem schult es sie darin, mit ihren Frustationserfahrungen besser umzugehen. Jugendliche empfinden den politischen Konflikt als etwas Wertvolles und als notwendigen Bestandteil der Demokratie. Sie heben hervor, inhaltlich zu kritisieren und nicht die Personen oder Gruppen, die diese Inhalte äußern.

Institutionen zur Ausübung der demokratischen Handlungskompetenz

Eine Volksherrschaft hat evtuell nie einen Zielzustand erreicht, sondern besteht nur aus einem politischen Design. Politik muss sich bewegen und anpassen, andernfalls erstarrt die demokratische Kommunikation. Das Verbesserungspotenzial der demokratischen Handlungskompetenz beschränkt sich demnach nicht nur auf den Schulbetrieb. Denn auch die Instituionen der bestehenden liberalen Demokratien benötigen Ergänzungen, mit denen gesellschaftliche Konflikte erkannt und geschlichtet werden können.

Insofern wird die Etablierung von Strukturen benötigt, in denen parteienunabhängige Bürger:innen auf andere Perspektiverfahrungen treffen und eine empathische sowie dynamische Diskursivität ausleben können. Im Idealfall fließen die daraus resultierten Ergebnisse in den politischen Prozess mit ein.  Hierbei besteht jedoch die Herausforderung, dass solche Partizipationsformate inkludierende und vertrauenserweckende Strukturen besitzen müssen, welche die sozioökonomische Partizipationsverschiebung kompensiert. An dieser Stelle bedürfen die bereits bestehenden Partizipationsformate noch einer Verbesserung, wie sich an den bayrischen Bürger:innenversammlungen zeigt, die Martha Suda (Julius-Maximilians-Universität Würzburg) untersuchte.

Die Beteiligung an den Bürger*innenversammlungen beruhte hierbei auf einer freiwilligen Teilnahme. Dies hat zur Folge, dass überwiegend ältere Männer aus der Mittelschicht partizipierten. Dabei handelte es sich um die üblichen Verdächtigen, also immer dieselben Bürger:innen. Insofern besteht kein repräsentativer Querschnitt der jeweiligen Gemeinden, was sich auch anhand der gleichartigen Thematiken verdeutlicht (Straßenverkehr oder das Verwahrlosen von Grünanlagen).

Es zeigte sich schnell, dass die Partizipationsausgestaltung für andere gesellschaftliche Gruppen – vor allem für jüngere Gemeindebürger:innen – eine inkludierende Attraktivität erfahren muss. Eine solche institutionelle Ausgestaltung der Bürger:innenversammlungen geht jedoch mit einem enormen Ressourcenaufwand einher. Seien es finanzielle Mittel oder geschultes Personal zur Beratung und Unterstützung. Exemplarisch wurde auf die Power-Point-Präsentation eines überforderten Bürgermeisters verwiesen, die aus über 100 Folien bestand und die Bürger:innen über ein Anliegen informieren sollte. 

Zusammenfassend können die bayrischen Bürger:innenversammlung zwar einen wertvollen Beitrag zur Erhöhung der subjektiven Responsivität ermöglichen, jedoch eignen sie sich lediglich als Ergänzung, um mehr über die Wünsche der Bürger:innen zu erfahren, die dann in die politische Umsetzung miteinfließen können. Allerdings ist anzumerken, dass dies nur selten der Fall ist, da der Gemeinderat zur Umsetzung der empfohlenen Vorschläge nicht verpflichtet ist. In diesem Fall sind die Bürger:innenversammlungen ein mäßig geeignetes Instrument zur Demokratiebelebung und Konfliktentschärfung.

Die eine problemlösende Maßnahmenempfehlung, damit das polarisierende Element einer zerstrittenen Gesellschaft abnimmt, gibt es nicht. Jedoch befassten sich alle Vorträge mit Formen der demokratischen Streitkultur und deren regelmäßigen Ausübung. In Zukunft wird es interessant sein, ob und inwiefern die Politikwissenschaft mit ihren Theorien einerseits und der politische Praxisbetrieb andererseits näher zusammenrücken werden. Zentral scheint allerdings dabei, dass solche demokratisierenden Institutionen für alle Gesellschaftsteile zugänglich sein müssen und ihre resultierenden Empfehlungen auch in politische Maßnahmen münden können. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Gesellschaft ihnen ebenfalls misstraut. Mit anderen Worten: Das Praktizieren demokratischer Politik ist aufwendig und muss sich lohnen.

Quellen:
Druckmann, James, Erik Peterson und Rune Slothuus 2013. How Elite Partisan Polarization Affects Public Opinion Formation. American Political Science Review 107: 57-79.