Dr. Liane Schüller – Literatur und Überwachung

Überwachung hat in Zeiten des digitalen und ‚user generated capitalism‘ offenkundig eine neue Qualität gewonnen. User geben immer mehr Freiheiten auf und private Daten freiwillig an staatliche wie private Überwachungsmaschinerien ab, deren Konvergenz zu diagnostizieren ist. So konstatiert Timo Daum, Experte für IT und digitale Ökonomie: ‚Fünf Milliarden Menschen benutzen Smartphones und generieren einen nicht enden wollenden Strom an Daten – das Gold des Digitalen Kapitalismus. Auch die Daten, die von Googles Such-Robotern unermüdlich durchforstet werden, haben wir alle selbst erstellt‘. Die Frage, was mit den gesammelten personenbezogenen Daten passiert und wem sie dienen, hat offenkundig auch in der Kunst ihren Niederschlag gefunden, wie nicht zuletzt der aktuelle Boom literarischer Dystopien von Dave Eggers bis Juli Zeh, von Sibylle Berg bis Bijah Moini belegt. Augenfällig sind die Ambivalenzen, die diesem neuen Panoptismus eingeschrieben sind, der in der digitalen Ökonomie ganz neue Qualitäten bekommt. Dieser Wandel von Kontrolle und Selbstkontrolle ist nicht vom Wandel der Kommunikationsmedien, die Kontrolle ermöglichen und in ein freiheitliches Gewand kleiden, zu trennen. Das Phänomen von (Selbst-)Überwachung changiert zwischen einer auf Kommunikation und Kommentar angelegten Zurschaustellung der eigenen Person in ‚sozialen‘ Netzwerken, die ein Selbstpanoptikum provozieren und wird paradoxerweise von einem gesteigerten individuellen Sicherheitsbedürfnis flankiert. Damit wird Unsicherheit zum zentralen Antriebsmotor eines Handelns, das in Praktiken der Selbst-Versicherung qua Selbstoptimierung und -kontrolle mündet. Somit scheint das Subjekt der Gegenwart von verschiedenen Seiten panoptisch in die Zange genommen zu werden: Von staatlicher und privatwirtschaftlicher Seite sowie nicht zuletzt von sich selbst. 

Die uns interessierende Frage ist, ob sich ein solcher Überwachungsmedienwandel literatur-, kultur- und medienwissenschaftlich nachzeichnen lässt. Es liegt auf der Hand, dass im historischen Querschnitt die Medien, mit deren Hilfe Kontrolle ausgeübt wird, in der Kunst unterschiedliche Erzähl- und Darstellungsweisen provozieren. Zu überprüfen ist deshalb, ob dem Medienwandel auf Seiten der Überwachungstechnologien auf dem Gebiet der Kunst ein Medienwechsel oder eine veränderte Mediennutzung folgt. 

In Fortsetzung unserer Essener Tagung von 2018, deren Beiträge inzwischen im Band Orwells Enkel. Überwachungsnarrative (Bielefeld 2019) vorliegen, möchten wir uns vom 24. bis 26. September 2020 in Łódź die Frage stellen, wie sich Überwachung historisch von Kontrolle in Selbstkontrolle übersetzt hat, welcher Stellenwert diesem Phänomen innerhalb der Lebens- und Arbeitsweisen der Gegenwart zukommt und wie die Künste auf diesen (Medien-)Wechsel reagieren.

‚Mediale Signaturen von Überwachung‘

 Tagung vom 24. bis 26. September 2020

Poster_Überwachung

Tagungsprogramm

‚Literatur und Überwachung‘

 Tagung vom 05. bis 06. Juli 2018

Orwells_Plakat

Tagungsprogramm

Das Thema Überwachung ist aus dem aktuellen gesellschaftlichen Diskurs kaum mehr wegzudenken. An öffentlichen Plätzen, an Arbeitsstätten, bei Bankgeschäften und in Supermärkten, in Eingangsbereichen von Bahnhöfen, Flughäfen und Shopping-Malls, aber zunehmend auch im privaten Bereich – Überwachungsformen sind omnipräsent. Dabei sind die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Sicherheit und Kontrolle inzwischen fließend. Aktuellstes Beispiel: Gesichtserkennung in Smartphones!

Ausgehend von analogen Bedingungen telematischer Überwachungsformen bis hin zu immer ausgefeilteren Möglichkeiten permanenter Rundumüberwachung differenzieren sich in Zeiten der Digitalisierung existierende Überwachungsformen weiter aus und werfen immer komplexere Fragen nach Datenschutz, Cybermobbing, Internetmissbrauch und informeller Selbstbestimmung auf.

The age of privacy is over, hat der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg bereits vor geraumer Zeit lapidar festgestellt. Wie Recht er hatte, zeigen nicht nur Gesichtserkennung und Fingerprint, sondern vor allem die allerorts praktizierte umfassende freiwillige Preisgabe persönlicher Daten. Aber was wird eigentlich aus den gigantischen digitalen Datenvolumen, wenn Informationen sich vernetzen und jeder alles über jeden weiß? Und was geschieht, wenn wir demnächst via Smartphone Antworten auf Fragen erhalten, die so noch gar nicht gestellt wurden?

Eine Vielzahl literarischer Texte, aber auch Filme und Theaterproduktionen der vergangenen Jahre reflektiert unsere zunehmend überwacht-überwachende, stetig gläserner werdende Gesellschaft mit ihrer scheinbaren Wohlfühlzone sozialer Netzwerke.

Versteht man Literatur als „Gedächtnis der Menschheit“ (Georg Lukács), ist ein Blick sowohl auf aktuelle literarische und mediale Produktionen geboten, als auch auf einschlägige dystopische Texte, deren apokalyptische Visionen inzwischen teilweise von der Realität noch weit übertroffen wurden.

Wie wurde und wird in Zeiten von Überwachung erzählt? – Diesen und auch grundsätzlichen Fragen philosophischer, soziologischer oder sozialpsychologischer Provenienz soll auf unserer Tagung nachgegangen werden, wobei Beiträge zu ‚kanonischen‘ Texten (von Orwells ‚1984‘ bis zu Dave Eggers‘ ‚The Circle‘) ebenso erwünscht sind wie solche zur Kriminal-, Phantasy- oder Kinder- und Jugendliteratur, aber auch zu den Medien Rundfunk-Film-Fernsehen.

Die Essener Tagung am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) am 5. bis 6. Juli 2018 hat sich zum Ziel gesetzt, in diesem Kontext Literatur als Selbstbeobachtungsprogramm der Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Sie möchte vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung von Überwachung(ssystemen) das Thema aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchten.

Tagungsbericht von Kira Ehlis

KWI

Impressionen vom Tagungstag

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Tagungsleitung und -organisation (2020)

Dr. Liane Schüller

Torsten Erdbrügger

Prof. Dr. Werner Jung 

 

Tagungsleitung und -organisation (2018)

​​Dr. Liane Schüller

Prof. Dr. Werner Jung ​​

Projektbezogene Publikationen
 

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