PORTRAIT: Prof. Dr. Anke Hinney
März 2020Im Interview:
Prof. Dr. Anke Hinney, Prodekanin für wissenschaftlichen Nachwuchs und Diversität und ehemalige Gleichstellungsbeauftragte der Medizinischen Fakultät, forscht seit knapp 25 Jahren an genetischen Mechanismen bei der Gewichtsregulation und bei psychiatrischen Störungen im Kindes- und Jugendalter, davon seit 11 Jahren am LVR-Klinikum Essen. 2012 wurde sie W2 Professorin für „Molekulargenetik von Adipositas und Essstörungen“ an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes und Jugendalters der Universitätsklinikums Essen. Seit Januar 2016 wird die Neuausrichtung dieser Professur mit Erweiterung um eine Genderteildenomination "Molekulargenetik von Adipositas und Essstörungen unter Berücksichtigung von geschlechtsspezifischen Aspekten" gefördert, von 2016-2018 über das NRW Landesprogramm für geschlechtergerechte Hochschulen, seit 2019 durch die Medizinische Fakultät der Universität Duisburg-Essen.
In ihrer Forschung fokussiert sich die Diplombiologin auf molekulargenetische Mechanismen zur Gewichtsregulierung bei den beiden Gewichtsextremen Anorexia Nervosa (umgangssprachlich ‚Magersucht‘) und Adipositas. Ziel ist es, die Biologie der Krankheiten genauer zu verstehen und in der Folge die Therapiemöglichkeiten zu verbessern. Zusammen mit EKfG-Vorstandsmitglied PD Dr. Andrea Kindler-Röhrborn hat Anke Hinney das Wahlfach GenderMedizin initiiert und im Wintersemester 2019/2020 erfolgreich angeboten. Als Prodekanin betreut sie zeitgleich weitere Projekte wie zum Beispiel das DFG-geförderte Clinician Scientist Programm (UMEA).
Welche Rolle spielte das EKfG bei der Einwerbung Ihrer Genderdenomination?
Die Einwerbung der Förderung war 2015 ein Gemeinschaftsprojekt meiner Professur, des EKfG und des Gleichstellungsbüros. Dabei waren insbesondere das EKfG und seine Unterstützung von großer Bedeutung, da ich im Zuge der Antragstellung überhaupt erst durch das Kolleg auf den starken Genderbezug in meiner Arbeit aufmerksam und mir bewusst wurde, dass ich geschlechtsspezifische Aspekte stärker in den Fokus meiner genetischen Untersuchungen rücken sollten. Gerade bei den geschlechtswendigen Störungen, wie z. B. Essstörungen, sind geschlechtsspezifische Analysen zielführend. So analysieren wir beispielsweise derzeit genetische Varianten für Anorexia nervosa (AN) hinsichtlich ihrer Relevanz für die Gewichtsregulation. Dabei stellte sich heraus, dass die genetischen Varianten für AN mit der größten Relevanz für die Gewichtsregulation vor allem im weiblichen Geschlecht eine Assoziation zeigen, deutlich weniger im männlichen Geschlecht.
Welche Veränderungen hat die Erweiterung der Denomination mit sich gebracht?
Die Förderung ermöglichte es mir erstmals, den Geschlechteraspekt in den Fokus meiner Forschung zu stellen - eine Chance, die ich ohne die praktische Unterstützung des EKfG nicht gehabt hätte. Die daraus resultierenden Forschungsergebnisse konnten hochrangig publiziert werden, und die Medizinische Fakultät hat zu meiner Freude entschieden, die finanzielle Förderung der Denomination um weitere drei Jahre zu verlängern.
Gemeinsam mit zwei Doktorandinnen wurden chromosomale Regionen untersucht, die hauptsächlich bei Frauen für die Gewichtsregulation verantwortlich gemacht werden können. Der Effekt dieser chromosomalen Region auf die Nahrungsaufnahme konnte z. B. in Kooperation mit Wissenschaftler*innen aus München genauer erforscht werden und für die Geschlechterforschung relevante Ergebnisse liefern. Eine weitere Studie, die ohne die Landesförderung nicht hätte durchgeführt werden können, war die Untersuchung von epigenetischen Effekten auf die Gewichtsregulation, also die Untersuchung der Frage, ob die Gewichtsregulation durch Umwelteinflüsse – wie z. B. eine veränderte Ernährungsweise – beeinflusst wird. Mit Hilfe eines sehr aufwändigen Verfahrens konnten diese Effekte bei Patient*innen mit Magersucht vor und nach der Behandlung analysiert werden. Die Daten werden momentan zu einer Publikation zusammengefasst.
Das Sichtbarmachen der Geschlechterperspektive hatte nicht nur einen nachhaltigen Effekt auf meine eigene Forschung. Inzwischen erkenne ich auch bei anderen psychischen Erkrankungen geschlechtsspezifische Zusammenhänge. Zudem interessiert mich das Thema Wissenschaft und Geschlecht seitdem nicht nur auf der inhaltlichen Ebene der Geschlechterforschung, sondern auch auf struktureller Ebene. Als Gleichstellungsbeauftrage der Medizinischen Fakultät habe ich mich daher für Chancengerechtigkeit zwischen Wissenschaftler*innen unterschiedlichen Geschlechts eingesetzt. Auch als Prodekanin sind mir Diversität in der Wissenschaft und eine geschlechtersensible Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses ein zentrales Anliegen.
Die Genderteildenomination – ein Alleinstellungsmerkmal der Universität Duisburg-Essen in diesem Bereich – möchte ich daher auch über 2021 hinaus unbedingt beibehalten.
Was schätzen Sie an Ihrer Mitgliedschaft im Essener Kolleg für Geschlechterforschung besonders?
Ich bin sehr froh, Mitglied geworden zu sein, mehr noch: die Mitgliedschaft im Kolleg hat meine Beschäftigung mit der Geschlechterperspektive in der Forschung und mein Engagement in der Hochschulpolitik nachhaltig geprägt und unterstützt. Das Kolleg ist ein großartiges Konstrukt, das mir ermöglicht, in „neue Welten“ abzutauchen und meinen interdisziplinären Horizont zu erweitern. Am Anfang war dies – und ist es in vielen Diskussionen immer wieder – eine richtige Herausforderung. Doch die interdisziplinäre Vernetzung im EKfG ist nicht nur eine fachliche und persönliche Bereicherung. Sie bietet auch einzigartige Möglichkeiten zu fachübergreifenden Forschungsprojekten. Kooperationen z. B. mit Kolleg*innen aus den Ingenieurwissenschaften sind auf dem Weg. Als beratendes Mitglied des EKfG-Vorstands kann ich ferner an der Strategieentwicklung des Kollegs mitwirken und an wichtiger Stelle die Perspektive meines eigenen Faches einbringen. Die Gespräche und der Erfahrungsaustausch mit engagierten EKfG-Mitgliedern aus der Medizin wie auch aus anderen Disziplinen haben seitdem meine Forschung und meine hochschulpolitische Gremienarbeit nachhaltig befördert.
Wie beurteilen Sie die Bedeutung der Geschlechterforschung für die Medizin?
Welche weitreichende Bedeutung die Geschlechterperspektive für die gesamte Medizin hat, hat sich erst vor kurzem bei der Einführung des neuen Wahlfachs GenderMedizin bestätigt. Geschlechterforschung ist einfach etwas, das in alle Bereiche strahlt! Das konnten wir z. B. daran sehen, dass sich aus allen Forschungsschwerpunkten der Medizinischen Fakultät, also der Herz-Kreislauferkrankungen, Onkologie, Transplantation, Immunologie und Infektiologie und den Translationalen Neuro- und Verhaltenswissenschaften insgesamt 18 Dozent*innen finden ließen, die über geschlechtsspezifische Aspekte ihrer Forschung referierten. Auffallend bei der Organisation des Wahlfachs war auch, dass sich die anfängliche Zurückhaltung auf Seiten mancher Kolleg*innen gegenüber der GenderMedizin in reges Interesse verwandelte, sobald sie die Geschlechterperspektive in ihrer Forschung erkannten. Die Illumination ging teilweise so weit, dass sich sogar ganz neue Promotionsthemen ergaben. Damit aus der Lehre gut ausgebildete Mediziner*innen hervorgehen, ist es wichtig, dass diese Erkenntnis auch die Studierenden erreicht und die Bedeutung der Geschlechtermedizin in Zukunft unbedingt sichtbarer zu machen. Klares Ziel ist, die Geschlechterforschung im Curriculum der Medizin zu verankern und damit ein weiteres Alleinstellungsmerkmal der Universität Duisburg-Essen zu schaffen. Diesem Ziel sind wir durch die Implementierung des Wahlfachs einen Schritt nähergekommen.
Aber nicht nur zukünftige Forschungen und Studien profitieren vom Sichtbarmachen der Geschlechterforschung, auch retrospektiv kann man die Wirkung von geschlechtsspezifischen Betrachtungen beobachten. So haben Untersuchungen z. B. gezeigt, dass das Geschlecht der sich im Raum aufhaltenden Personen das Ergebnis von Tierversuchen beeinflussen kann und so ganz neue Erklärungsmöglichkeiten für nicht reproduzierbare Versuchsergebnisse liefert.
Die Berücksichtigung von Geschlecht führt damit zu einer belastbaren, differenzierten Wissenschaft. Erwähnenswert ist auch der enorme ökonomische Nutzen von Geschlechterforschung in der Medizin, denn diese führt gegebenenfalls zu einer geringeren Menge von zu verabreichenden Medikamenten bei Frauen. Die Bedeutung von Geschlechterforschung für die Medizin spielt außerdem in der Diagnostik eine große Rolle, da z. B. Herzinfarkte bei Frauen, aufgrund der von Männern unterschiedlichen Symptome, noch immer sehr häufig fehldiagnostiziert werden. Nicht um mögliche geschlechtsspezifische Unterschiede von Krankheiten und ihren Symptomen zu wissen, kann demnach in manchen Fällen lebensbedrohlich sein. Es ist daher wichtig, das allgemeine Bewusstsein für geschlechtsspezifische Symptome zu schärfen, damit sich auch Ersthelfer*innen im Ernstfall richtig verhalten können. Geschlechtermedizin hat damit neben der wissenschaftlichen und institutionellen auch eine ökonomische und elementar gesellschaftliche Dimension.