Lieber Erst- als Muttersprachen?

Tag 8

Doppelstrich Gruen
Im deutschen Sprachraum ist der Begriff ‚Muttersprache‘ relativ gebräuchlich. Menschen verbinden damit oft die erste Sprache, die jemand spricht, oder auch jene Sprache, mit der man sich emotional verbunden fühlt. Aus wissenschaftlicher Sicht ist der Begriff aber durchaus umstritten. Woran liegt das?

1) Die Assoziation ‚Muttersprache‘ weckt eine Vorstellung von Sprachweitergabe, die von der Mutter zum Kind erfolgt – was aber ist mit den Sprachen der Väter, der Großeltern und der Freund*innen?

2) Für viele Fragen, die sprachwissenschaftlich interessant sind, ist es wichtig, welche Sprache zuerst erlernt wurde – deshalb ist der Begriff ‚Erstsprache‘ oder auch ‚Erstsprachen‘ mittlerweile häufiger. Abgekürzt heißt diese Sprache dann auch L1 (Language 1). Bei mehrsprachigen Eltern oder in mehrsprachigen Umgebungen können Kinder natürlich auch mehrere Sprachen gleichzeitig ‚als erstes‘ lernen (das heißt dann 2L1 und bedeutet ‚zweisprachiger Erstspracherwerb‘).

3) Durch die Verbindung von Sprache und Familie (und Emotionen) wählen Menschen oft den Begriff ‚Muttersprache‘ für Sprachen, mit denen sie sich politisch oder sozial verbunden fühlen. Das können also auch Sprachen sein, die im Lauf einer Familienbiographie verloren gegangen sind oder verboten wurden. Der Begriff ‚Muttersprache‘ sagt dann also gar nichts mehr darüber aus, ob jemand sich in einer Sprache verständigen kann.

4) Die Bezeichnung von Sprachen, egal ob sie jetzt Deutsch, Türkisch, Russisch, Englisch oder Griechisch genannt oder als ‚Herkunftssprachen‘, ‚community languages‘ oder ‚Familiensprachen‘ bezeichnet werden, ist nie neutral. Mit jedem Begriff schwingen bestimmte Erwartungen mit. Früher wurden Türkisch, Italienisch und Polnisch als Migrationssprachen’ bezeichnet – das stimmt natürlich nur, wenn wir ausschließlich von der Perspektive Deutschlands oder Österreichs ausgehen, wohin Sprecher*innen dieser Sprachen zu bestimmten Zeitpunkten migriert sind. Auch der Begriff Nachbarsprachen’ ergibt nur Sinn, wenn wir wissen, wer als Nachbar gesehen wird. Genauso ist der Begriff Weltsprache’ mit einer Bewertung verbunden – und zwar mit der, dass es Sprachen gibt, die auf der ganzen Welt relevant sind.

Wie wir Sprachen bezeichnen, sagt etwas über unseren Blick auf die Welt aus!

Tag der Muttersprachen