Forschungsgruppe Migration und Sozialpolitik - Einzelprojekt
Topologien der Flucht – Ein Beitrag zur Subjektivierung und Organisation von Flucht_Migration in wohlfahrtsstaatlichen Arrangements
Bearbeitet von: Dr. Thorsten Schlee
Das Interesse an der Arbeitsmarktteilhabe Geflohener
Politik, lokale Verwaltungen, privatwirtschaftliche Akteure, Verbände und Kammern entdeckten in den Jahren nach 2015 die Arbeitsmarktpotentiale Geflohener. Es galt Verwaltungsabläufe und Datenaustausch zu optimieren und sozialstaatliche Angebote aufzulegen, die eine möglichst schnelle Integration Geflohener in den Bundesdeutschen Arbeitsmarkt vorantreiben sollten. Das Interesse an der Arbeitskraft von Personen, die aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen in die Bundesrepublik einreisen und damit die Kopplung der Themen „Flucht und Arbeitsmarkt“ ist in dieser Form relativ neu und Teil einer sich wandelnden Verhältnisbestimmung von Migration und nationalem Wohlfahrtsstaat, den verschiedene globale Mobilitätsformen unter Anpassungsdruck setzen und der zugleich den Anspruch verfolgt, grenzüberscheitende Mobilität zu gestalten, mithin zu steuern.
Koproduktion lokaler Sozialpolitik
Geht man davon aus, dass die soziale Frage nicht nur Mehr in nationalstaatlichen Rahmen zu fassen ist, hat das Konsequenzen für die Erforschung des Sozialstaates wie auch für sozialpolitische Handlungserfordernisse. Entsprechend wächst das Interesse an sozialen Prozessen, die Grenzen überschreiten oder sich unterhalb nationaler Politiken verorten. Folgt man diesem wahlweise „local turn“ oder im weiteren Sinne der Dezentrierung der Sozialpolitikforschung, ist davon auszugehen dass diese gegenwärtigen Neuausrichtungen der Verhältnisbestimmung von Migration und Sozialpolitik weniger an den großen Einheiten – wie nationalen Wohlfahrtsregimen oder nationalen Migrationsregimen – ablesbar und fassbar werden, sondern dass sich diese Transformation empirisch in lokalen Kontexten aufzeigen lassen. Nicht „der Staat“ im Singular als unitarischer Akteur, sondern eine Vielzahl von Organisationen der Migrationssteuerung, der Sozialpolitik, der Wohlfahrtspflege, der Zivilgesellschaft wie auch die Geflohenen selbst wirken an der Koproduktion lokaler Sozialpolitik mit. Nicht Akteure, ob nationalstaatlich oder lokal, nicht lokale Politik noch die Handlungsmacht Geflüchteter, sind die Untersuchungseinheiten, sondern die Positionierungen und Relationen, wie auch die Rationalitäten, die diesen empirischen Anordnungen Gestalt geben.
Forschungsdesign
Dieser Ausgangslage trägt ein multidimensionales Forschungsdesign Rechnung, dass die organisationale Bearbeitung von Fluchtmigration genauso berücksichtigt wie die soziale Positionierung Geflohener im Kontext des bundesdeutschen Arbeitsmarktes. Dazu werden Erhebungen in drei Kommunen im Bundesgebiet durchgeführt, die sich hinsichtlich ihrer politischen Struktur, ihrer landespolitischen Rahmungen und auch ihrer Erfahrungen im Umgang mit Migration unterscheiden.
Arbeitsmarktintegration oder differentielle Inklusion?
Ausgehend von der Frage nach der Arbeitsmarktintegration Geflohener entwickelt die Arbeit ein differenziertes Bild von Einflussfaktoren, mit denen die soziale Positionierung Geflohener empirisch beschreibbar wird. In biografischen Erzählungen werden die Spannungsverhältnisse von Selbst- und Fremdzuschreibungen Geflohener, die soziale Positionierung in Abhängigkeit von den Erfahrungen und Lebenswegen im Herkunftsland, der Umgang mit der jeweiligen aufenthaltsrechtlichen Position in der Bundesrepublik und schließlich die Wahrnehmung und Nutzung lokaler sozialpolitischer Angebote sichtbar. Die Befragung Geflüchteter umfasst dabei Workshops und narrative Interviews (n=12) in den untersuchten Kommunen. Nicht Integration, sondern differentielle Inklusion ist das Konzept, mit dem ein Zusammenwirken unterschiedlicher Inklusions- und Exklusionsverhältnisse beschreibbar wird.
Lokale Arbeitsmarktpolitik oder fragmentierte Staatlichkeit?
Eine Person, die an einem Sprachkurs teilnimmt, kann nicht gleichzeitig bei einem Vorstellungsgespräch sein und doch werden solche parallelen oder widersprüchlichen Anforderungen an das sozialstaatliche Publikum herangetragen. Die Sozialpolitikforschung problematisiert spätestens seit den frühen 2000er Jahren die Fragmentierung des Sozialstaates, der mit unterschiedlichen Zielstellungen, gesetzlichen Rahmungen und professionellen Hintergründen sein Publikum einmal in diese und dann wieder in eine andere Richtung bearbeitet. Der Blick auf „das Lokale“ verspricht umgekehrt diese Fragmentierung aufzuheben und zu personal bedarfsgerechten lokal integrierten Vorgehensweisen zu gelangen. Die Besonderheit lokaler Sozialpolitik für Migrierte und vor allem für Geflohene ist die Wirksamkeit des Asyl- und Aufenthaltsgesetzes und damit die Präsenz von Migrationsbehörden, dem BAMF und den Kommunalen Ausländerbehörden. Expert*inneninterviews (n=24) mit Mitarbeiter*innen kommunaler Integrationsverwaltungen, kommunaler Ausländerbehörden, der lokalen Arbeitsmarktverwaltung, sowie mit Trägern arbeitsmarktpolitischer Instrumente zeigen die organisationalen Rationalitäten, mit denen Fluchtmigration jeweils bearbeitet wird. Können wir angesichts des Grades an staatlicher Fragmentierung überhaupt von einer lokalen Integrationspolitik ausgehen und in welchen Kooperationsformen kann sie Gestalt annehmen?
Im Zusammenwirken der subjektiven Positionierung Geflohener und den organisationalen Rationalitäten/Praktiken schließlich werden die Transformationen des Verhältnisses von Migration und nationalem Wohlfahrtsstaat in weltgesellschaftlichen Konstellationen sichtbar