Informationen zum Forschungsprojekt
Industrielle Beziehungen und politische Steuerung in der deutschen Bauwirtschaft. Eine empirische Untersuchung zur Normgenese der deutschen Entsenderegulierung
Ziel und Aufgabenstellung
Anfang der 1990er Jahre veränderte sich die Situation auf dem deutschenBauarbeitsmarkt. Mit dem Einsatz entsandter Arbeitskräfte entwickelte sichmit den Entsendungen eine neue Migrationsform. Seitdem findet der Wettbewerbnicht mehr national zwischen deutschen Baubetrieben, sondern auf grenzüberschreitendenArbeitsmärkten statt. Ausländische Unternehmen entsenden Arbeitskräftefür kurzfristige Einsätze in ein anderes Land, die dort zu den Arbeitsund Sozialbestimmungen des Herkunftslandes eingesetzt werden.
Entsendeunternehmen konnten die Unterschiede in den Arbeits und Sozialstandards,die in ihrem Herkunftsländern oft deutlich unter dem deutschen Standardlagen, zunächst gänzlich als Wettbewerbsvorteil nutzen und Bauleistungengünstiger als deutsche Baubetriebe anbieten. Infolge dieser Entsendepraxisspaltete sich der deutsche Bauarbeitsmarkt: Auf der einen Seite standen entsandteArbeitskräfte mit geringen, auf der anderen Seite heimische Arbeitskräftemit hohen Arbeits und Sozialstandards.
Diese "Transnationalisierung des Bauarbeitsmarktes" hatte weitreichendeFolgen für das Regulierungssystem in der Bauwirtschaft. Das System basiertauf bundesweit einheitlichen und allgemeinverbindlichen Flächentarifverträgen,die von gesetzlichen Regelungen flankiert werden. Auf diese Weise konnte inder Vergangenheit ein Wettbewerb zwischen überregional tätigen Baubetriebenund auch zwischen tarifgebundenen und nichttarifgebundenen Unternehmen überArbeitsbedingungen, insbesondere über die Lohnhöhe, vermieden werden.Der Wettbewerb zwischen deutsche Bauunternehmen fand über Faktoren wiedie Qualität der Bauleistung oder die termintreue Auftragserbringung statt.Mit den Entsendungen änderten sich die Wettbewerbssituation. Entsendeunternehmenkonkurrieren über den Preis, d.h. über die Lohnhöhe oder Arbeitszeitund Urlaubsregelungen mit deutschen Bauunternehmen. Das für das Tarif,Arbeits und Sozialrecht geltende Territorialprinzip, nach dem alle Personenauf dem Gebiet eines Staates den dort geltenden Normen unterliegen, wurde ausgehöhlt.Die Transnationalisierung gefährdete somit das gesamte Regulierungssystemund den Bestand von Bauunternehmen und Arbeitsplätzen in der deutschenBauwirtschaft.
Auf den ersten Blick scheinen sich in der Bauwirtschaft jene Thesen zur Entwicklungvon Steuerungsfähigkeit und industriellen Beziehungen zu bestätigen,die von Deregulierung und umfassenden Veränderungen ausgehen oder sogardie Auflösung des "Modells Deutschland" prognostizieren. Damitwären auch nicht mehr erfüllt. Doch die Voraussetzungen korporatistischerSteuerung und konsensorientierter industrieller Beziehungen in der deutschenBauwirtschaft sind nach wie vor gegeben. Die korporativen Akteure zeichnen sichweiterhin durch ein hohes Maß an Handlungs und Steuerungsfähigkeitund durch kooperative, konsensorientierten Beziehungen untereinander aus. Unterbestimmten Voraussetzungen scheinen die Auswirkungen des Europäisierungsprozessesweniger eindeutig zu sein, als es die Thesen vom nationalen Steuerungsverlustund vom Wandel der industriellen Beziehungen nahe legen.
Die vorliegende Untersuchung befasst sich unter steuerungstheoretischen Gesichtspunktenmit der veränderten Situation in der deutschen Bauwirtschaft, in der diezunehmende Marktöffnung seit Beginn der neunziger Jahre Politik und Verbändemotivierte, die deutschen Arbeitsbedingungen an die veränderten Wettbewerbsbedingungenanzupassen. Es wird der Frage nachgegangen, wie und inwieweit die nationalenAkteure mit einer nationalen Entsenderegulierung, dem Arbeitnehmer-Entsendegesetzund dem Mindestlohn-Tarifvertrag, ihre Steuerungsfähigkeit wieder herstelltenbzw. erhalten konnten, und ob und inwieweit sich durch die Entsenderegulierungdie Beziehungen der korporativen Akteure zueinander veränderten.
Die Untersuchung kommt zu dem Schluß, daß die zunehmende Europäisierungder deutschen Bauwirtschaft die Steuerungsfähigkeit der nationalen Akteurezwar einschränkt, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften aber unterbestimmten Voraussetzungen weiterhin kooperativ und konsensorientiert die Arbeitsbedingungenund die Entwicklung der industriellen Beziehungen gestalten können. Umdie Voraussetzungen zu erfüllen, muß der Staat zusätzliche Aufgabenübernehmen.
Vorgehen
Bei der Frage nach der Gestaltung von konkreten Politikinhalten (policies)richtete sich der analytische Blick insbesondere auf die beteiligten Akteure.Dabei wurden die Beteiligten als Einzelakteure mit ihren jeweiligen Interessenund Organisationsproblemen gesehen, aber auch mit anderen beteiligten Akteurenin Zusammenhang gebracht. Außerdem wurde der institutionelle Kontext berücksichtigt,der das Akteurshandeln beeinflusste.
Um die Normgenese der Entsenderegulierung untersuchen zu können, wares notwendig, die beteiligten Akteure und ihre jeweiligen Interessen zu identifizierenund ihre Beziehungen untereinander zu bestimmen. Die hierfür erforderlichenInformationen wurden über Experteninterviews und schriftliche Quellen erhoben.Die Expertengespräche dienten der Gewinnung von Informationen, die ausschriftlichen Quellen nicht bzw. nicht vollständig hervorgehen. An schriftlichenQuellen wurden prozessgenerierte Dokumente, Printmedien und Archivmaterial herangezogen.
Publikationen zum Projekt
Worthmann, Georg, 2003: Nationale Autonomie trotz Europäisierung: Probleme der Arbeitsmarktregulierung und Veränderungen der industriellen Beziehungen in der deutschen Bauwirtschaft. Zugl.: Univ. Duisburg, Diss., 2002. . München: Hampp. Arbeit und Technik 25, ISBN: 3-87988-718-7
Worthmann, Georg / Zühlke-Robinet, Klaus, 2003: Neue Arbeitsmigration im Baugewerbe und ihre Regulierung: das Arbeitnehmer-Entsendegesetz als Instrument zur Re-Regulierung des Bauarbeitsmarktes. In: Uwe Hunger und Bernhard Santel: Migration im Wettbewerbsstaat, S. 91–118
Bosch, Gerhard / Worthmann, Georg / Zühlke-Robinet, Klaus, 2002: Das deutsche Baugewerbe im europäischen Wettbewerb. In: Dieter Sadowski und Ulrich Walwei: Die ökonomische Analyse des Arbeitsrechts: IAB-Kontaktseminar vom 12.-16. November 2001 im Institut für Arbeitsrecht und Arbeitsbeziehungen in der Europäischen Gemeinschaft (IAAEG) der Universität Trier, S. 107–143
Worthmann, Georg, 2001: Industrielle Beziehungen und politische Steuerung in der deutschen Bauwirtschaft: eine empirische Untersuchung zur Normgenese der deutschen Entsenderegulierung. Duisburg: Univ.
Bosch, Gerhard / Worthmann, Georg / Zühlke-Robinet, Klaus, 2000: Verschärfte Konkurrenz zwischen deutschen und ausländischen gewerblichen Bauarbeitern. In: Hans Mayrzedt: Arbeitsmarkt und erfolgsorientiertes Personalmanagement im Bau, S. 43–76
Bosch, Gerhard / Worthmann, Georg / Zühlke-Robinet, Klaus, 2000: Die Entstehung von "Freihandelszonen" im Arbeitsmarkt: die Transnationalisierung des deutschen Bauarbeitsmarktes. In: WSI-Mitteilungen 53 (10), S. 671-680
Worthmann, Georg, 1998: Der Bauarbeitsmarkt unter Veränderungsdruck: Kontrolldefizit in Folge der Transnationalisierung. In: Institut Arbeit und Technik: Jahrbuch 1997/98, S. 70–85