Informationen zum Forschungsprojekt

Bildungswege in der Sekundarstufe I

Ziel

Forderungen nach (mehr) Durchlässigkeit im Schulsystem, nach der Ermöglichung von passgenauen Bildungswegen für die einzelnen Schülerinnen und Schüler und nach der individuellen Vorbereitung und Begleitung von Übergängen sind zentrale Themen in der Bildungspolitik, seit Anfang der 2000er Jahre die Ergebnisse der PISA-Studie eine Diskussion über die Abhängigkeit der Bildungserfolge von der sozialen Herkunft ausgelöst hatten. Dabei wird vielfach davon ausgegangen, dass die Übergangsentscheidung am Ende der Grundschulzeit den weiteren Bildungsweg determiniere und Wechsel innerhalb der Sekundarstufe nur in eine Richtung – nämlich zu Schulen mit niedrigerem Anforderungsniveau – stattfänden. Das Schulsystem – gerade in Nordrhein-Westfalen – ist so jedoch so gestaltet, dass ein Übergang „nach oben” auf unterschiedlichen Wegen möglich ist und auch ein Schulformwechsel „nach unten” keine Sackgasse für die Bildungslaufbahn bedeuten muss.

Die Entwicklung der einzelnen Schüler/innen wird von vielfältigen Faktoren beeinflusst und ist nicht über die gesamte Schullaufbahn hinweg prognostizierbar. Die Gestaltung von passgenauen Bildungswegen erfordert daher eine weitere Begleitung in der Sekundarstufe I, verbunden mit Möglichkeiten, auf Entwicklungen der einzelnen Schüler/innen zu reagieren, individuell angemessene Entscheidungen zu treffen und ggf. einen Schulformwechsel vorzubereiten und zu begleiten.

Dem Projekt „BiSek“Es lag die Annahme zugrunde,  dass die diesbezüglichen Potenziale durch eine Kooperation der beteiligten Schulen und eine damit verbundene gezielte Förderung der Schüler/innen in der Sekundarstufe I besser ausgeschöpft werden könnten, als dies bislang der Regelfall war. Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzungen analysierte die Abteilung BEST die Potenziale schulformübergreifender Kooperation am Beispiel des Schulverbandes Mönchengladbach-Rheydt, in dem eine Hauptschule, eine Realschule und ein Gymnasium miteinander kooperierten.

Vorgehen

Die amtliche Schulstatistik in Nordrhein-Westfalen ermöglicht die Dokumentation der Anzahl von Schulformwechsel und der schulischen Herkunft vor den Übergängen, jedoch keine Rekonstruktion von Bildungslaufbahnen. Auf der Grundlage der Daten der einzelnen am Verband beteiligten Schulen wurden daher anonymisierte Schülerverlaufsdaten analysiert. Integriert in ein Seminar im BA-Studiengang Politikwissenschaft („Methodenanwendung in Praxisfeldern”) wurden Interviews mit Schüler/inne/n und Eltern geführt, um deren Erfahrungen mit einem Schulformwechsel zu erheben. Ergänzt wurden die Arbeiten durch eine Auswertung der schulischen Konzepte und Diskussionen mit Lehrkräften.

Zentrale Ergebnisse

Die Untersuchung, gefördert durch die Wübben Stiftung und die Stadt Mönchengladbach, befasst sich mit Bildungswegen in der Sekundarstufe I und dem Übergang in die Sekundarstufe II. Im Zentrum standen dabei Schulformwechsel – sowohl horizontal (zwischen Schulformen innerhalb der Sekundarstufe I) als auch vertikal (Übergang aus Haupt- und Realschule in die gymnasiale Oberstufe) – sowie die Rolle von Schulkooperationen und der Nutzung von Schulverwaltungsdaten zum Verlauf von Bildungswegen.

Ein zentrales Ergebnis ist die hohe Relevanz der Dokumentation individueller Bildungsverläufe. Viele Schüler*innen wechseln im Verlauf der Sekundarstufe – manchmal mehrfach – zwischen den Schulformen. Diese Dokumentation der Vielfalt der Bildungswege zeigt sowohl Chancen (die Möglichkeit von Entwicklungen innerhalb der Sekundarstufe I, die auf unterschiedlichen Wegen zur Hochschulzugangsberechtigung führen können) als auch Risiken (insbesondere Abbrüche nach wiederholten Wechseln). Um diese Muster besser zu verstehen, ist die Nutzung von Bildungsverlaufsdaten von zentraler Bedeutung. Während die amtliche Schulstatistik nur aggregierte Abschlüsse und Übergänge abbildet, erlauben Verwaltungsdaten einzelner Schulen eine feingliedrige Rekonstruktion individueller Laufbahnen. Damit wird sichtbar, an welchen Punkten besondere Unterstützungsbedarfe bestehen – sowohl individuell als auch bezogen auf bestimmte Jahrgangsstufen. So hat sich bspw. anhand der Auswertung der Daten in der beteiligten Realschule der Übergang von Klasse 8 nach Klasse 9 als eine kritische Phase herausgestellt, die besonderer Aufmerksamkeit bedarf.

Auf dieser Grundlage wird empfohlen, Schulverwaltungsdaten systematisch in ein schulisches und kommunales Bildungsmonitoring einzubetten. Ein anonymisiertes, datenschutzkonformes Verfahren – idealerweise auf Basis einer einheitlichen Schüler-ID – kann mit überschaubarem Aufwand Indikatoren über Risikosituationen und Erfolgsfaktoren liefern. Für die Praxis bedeutet das: Schulen und Kommunen erhalten datenbasierte Hinweise darauf, wo gezielte Förderung nötig ist, in welchen Klassenstufen oder in welchen Schulen überdurchschnittlich viele Abgänge zu verzeichnen sind oder welche Maßnahmen erfolgreich wirken. Ziel ist dabei kein Wettbewerb, sondern ein kooperatives Lernen zwischen Schulen.

Die zweite zentrale Erkenntnis betrifft die Potenziale von Schulkooperationen. Horizontale Wechsel verlaufen oft in Richtung weniger anspruchsvoller Schulformen. Die Interviews mit Schüler*innen und Eltern zeigen, dass diese Wechsel für die Betroffenen zunächst mit Unsicherheit verbunden sind, im Rückblick aber häufig als Chance erlebt werden. Hier zeigt sich: Wenn Schulen unterschiedlicher Schulformen eng kooperieren und Wechsel systematisch vorbereiten und begleiten, lassen sich Ängste abbauen und Bildungswege stabilisieren. Schnuppertage, Hospitationen oder Übergangsvereinbarungen können dazu beitragen, dass ein Wechsel nicht als Abwertung, sondern als Möglichkeit individueller Förderung erlebt wird. Umgekehrt lässt sich feststellen, dass innerhalb der Sekundarstufe I auch Wechsel hin zu anspruchsvolleren Schulformen möglich sind, wenn sie auf der Basis von Schulkooperationen vorbereitet und begleitet werden.

Auch vertikale Mobilität – der Übergang in die gymnasiale Oberstufe – gewinnt durch Kooperation an Qualität. Sie bietet insbesondere Schüler*innen aus weniger privilegierten Elternhäusern oder mit Migrationsgeschichte die Chance, Bildungsentscheidungen am Ende der Grundschulzeit zu korrigieren und im Laufe der Sekundarstufe I die für die Oberstufe erforderlichen Kompetenzen zu erwerben. Damit dieses Potenzial wirksam wird, sind abgestimmte Informations- und Beratungsangebote notwendig. Die Studie zeigt, dass strukturierte Kooperationen zwischen abgebenden und aufnehmenden Schulen Unsicherheiten reduzieren und Fehlentscheidungen vermeiden können. Besonders wirksam sind zeitlich abgestufte Informationsphasen (z. B. allgemeine Orientierung in Klasse 10, konkrete Vorbereitung vor den Sommerferien) sowie spezielle Angleichungs- und Förderangebote in der Einführungsphase der Oberstufe.

Für die Praxis lassen sich drei zentrale Schlussfolgerungen ziehen:

  • Bildungsverlaufsdaten aktiv nutzen: Schulen und Kommunen sollten Verwaltungsdaten regelmäßig auswerten, um Risikopunkte frühzeitig zu identifizieren und Ressourcen gezielt einzusetzen.
  • Kooperationen institutionalisieren: Schulformübergreifende Kooperationen sollten verbindlich in der Schulentwicklungsplanung verankert werden, um horizontale wie vertikale Mobilität transparent und verlässlich zu gestalten.
  • Übergänge individuell begleiten: Beratung, Förderangebote und soziale Integration sind Schlüsselfaktoren, damit Schulformwechsel nicht als Brüche, sondern als Entwicklungschancen erlebt werden.

Die Studie macht damit deutlich: Eine kluge Verbindung von Datenanalyse und Kooperation eröffnet die Möglichkeit, Durchlässigkeit im Schulsystem nicht nur formal zu sichern, sondern auch praktisch mit Leben zu füllen. Für Kommunen und Schulen ergibt sich daraus die Chance, Bildungswege stärker am Individuum auszurichten und strukturelle Benachteiligungen wirksam zu reduzieren.

Publikationen zum Projekt

Stöbe-Blossey, Sybille / Rohling, Isabell / Micheel, Brigitte / Niehoff, Annika / Thul, Vincent, 2020: Bildungswege in der Sekundarstufe I – Potenziale der Durchlässigkeit im Schulsystem. Duisburg: Inst. Arbeit und Qualifikation. IAQ-Forschung 2020-04 | DOI-Link| Info | Lesen

Projektdaten

Laufzeit des Projektes
01.06.2018 - 31.03.2020

Forschungsabteilung
Bildung, Entwicklung, Soziale Teilhabe

Leitung und Bearbeitung:
Prof. Dr. Sybille Stöbe-Blossey

Finanzierung:
Wübben Stiftung