Die Forschungsgruppe "Ambiguität und Unterscheidung" stellt sich vor
Ambiguität und Unterscheidung. Historisch-kulturelle Dynamiken
Was geschieht, wenn Phänomene uneindeutig sind und sich nicht klar einordnen lassen? Wie gehen Personen, Gruppen und Gesellschaften mit Situationen um, in denen die Unterscheidungen, mit denen sie gewöhnlich operieren, auf ambige Phänomene stoßen? Wie ist es zu erklären, dass Ordnungsversuche durch vermeintlich klare Unterscheidungen so häufig gerade jene Uneindeutigkeiten produzieren, derer sie hatten Herr werden sollen? Diesen und weiteren Fragen widmet sich die seit Anfang 2019 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Forschungsgruppe 2600 „Ambiguität und Unterscheidung. Historisch-kulturelle Dynamiken“. Im April 2022 hat der Verbund seine zweite dreijährige Förderphase begonnen.
Im Zentrum unseres Forschungsverbundes stehen das Wechselverhältnis von Ambiguität und Unterscheidung sowie die Dynamiken, die sich aus dieser Spannung ergeben. Ambiguität tritt dort auf, wo die Unterscheidungen, die die soziale Welt ordnen helfen, nicht mehr greifen. In der Rückbindung des Ambiguitätskonzepts an Unterscheidungen setzen wir den Fokus auf die drei Unterscheidungen von Religion, Geschlecht und Race. Da sie zentrale Differenzen sind, die in zahlreichen historischen und gegenwärtigen Gesellschaften wichtige Ordnungsfunktionen übernehmen, gehen wir davon aus, dass ihre Ambiguierung besonders intensive und nachhaltige Irritationen auslöst.
Dies lässt sich etwa am Beispiel der Beobachtung jüdischer Konvertiten zum Christentum im späten Mittelalter veranschaulichen: Sie oder bereits ihre Vorfahren hatten sich zwar zum Christenglauben bekehrt, in den Augen vieler ihrer christlichen Zeitgenossen die Verbindung zu ihrer Herkunftsreligion jedoch nicht gänzlich gelöst. Man beobachtete sie wie Vexierbilder, die zugleich auf die eine oder die andere Seite der religiösen Unterscheidung und damit letztlich auf keine der beiden Seiten zu passen schienen – unabhängig davon wie sehr sich die Betroffenen selbst als rechtgläubige Christen empfinden mochten.
Wir betrachten Ambiguität also nicht als die Eigenschaft eines Objektes. Personen, Gegenstände, Epochen oder Gesellschaften besitzen nicht Ambiguität, sondern werden von einer Beobachtungsinstanz, d.h. einer Person, einer Gruppe oder einer Organisation als ambig beobachtet. Ambiguität liegt somit im Auge einer Beobachtungsinstanz, der es nicht gelingt, mit den Differenzen, die ihre Welt bislang ordneten, weiterhin störungsfrei zu operieren.
So entstehen durch Ambiguität Situationen epistemischer Offenheit, die dann auf verschiedene Weisen gelöst werden können: Die Ambiguität kann als Bereicherung aufgefasst und die Unterscheidung um weitere Werte ergänzt werden; die Unterscheidung kann fallengelassen und durch eine andere ersetzt werden oder die Ambiguität kann zurückgewiesen und die Unterscheidung gleichsam gegen den Widerstand der Phänomene durchgesetzt werden.
Unter welchen Umständen welche Lösung gewählt wird, wie also angesichts der von Ambiguität verursachten Entscheidungshemmung weitergemacht wird und ob sich dabei Regelmäßigkeiten beobachten lassen, untersucht die Forschungsgruppe „Ambiguität und Unterscheidung. Historisch-kulturelle Dynamiken“ in ihren Teilprojekten anhand verschiedener Settings. Die Forschungsgruppe vereint Projekte aus Amerikanistik, Anglistik, Germanistik, Geschichts- sowie Kunstwissenschaft, deren geographisches Spektrum von den nordamerikanischen Kolonien über Mitteleuropa und das östliche Mittelmeer bis nach Australien reicht. Chronologisch erstrecken sich die Settings der Teilprojekte vom Spätmittelalter über die Barockzeit bis in die jüngste Vergangenheit.
In der zweiten Förderphase sind folgende Teilprojekte beteiligt:
- Das ambige Jahrhundert: Gender, "Bewegungen" und Ambiguitätsästhetik in den USA, 1800-1900
Dr. Elena Furlanetto (Projektleitung und -bearbeitung) - Praktiken des Neo-Osmanismus in Kunst und Kunstwissenschaft: Medien der Sakralisierung zwischen anachronistischer Affirmation und Subversion
Prof. Dr. Gabriele Genge (Projektleitung) / Eva Liedtjens / N.N. - Ambiguity and Disambiguation of Belonging - The Regulation of Alienness in the Caribbean during the Revolutionary Era (1780s-1820s)
Prof. Dr. Jan C. Jansen (Projektleitung) / N.N. / N.N. - Dis/Ambiguation Religious Affiliations: Sectarians, Agnostics, and Secularists in the Late Ottoman Empire and Turkey
Prof. Dr. Kader Konuk (Projektleitung) / Dr. Gülbin Kıranoğlu / Dr. Zeynep Tüfekçioğlu - Orientalism in Colonial Australia (1770-1901): A Transimperial Perspective
Prof. Dr. Patricia Plummer (Projektleitung) / Dr. Syed Kazim Ali Kazmi - Das Meer der Neuchristen: Mobilität und Ambiguität konvertierter Juden und ihrer Nachkommen im Adriaraum des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit
Prof. Dr. Benjamin Scheller (Projektleitung) / Dr. Nicolò Villanti / Marcel Müllerburg - Die Ambiguität des Türkischen in der deutschsprachigen Erzählliteratur der frühen Neuzeit
Prof. Dr. Jörg Wesche (Projektleitung) / Julius Thelen
Eine Übersicht mit den Teilprojekten der ersten Förderphase (2019-2022) finden sie hier.
In ihrer zweiten Förderphase (2022-2025) fokussiert die Forschungsgruppe auf die Interferenzen zwischen Ambiguierungen. Wir fragen also danach, ob und wenn ja, wie die Ambiguierung einer Unterscheidung die Operation mit einer anderen Unterscheidung beeinflusst. Bei der Anwendung von Unterscheidungen kann es zu Überlagerungen kommen, die Kontraste im Hinblick auf bestimmte Phänomene verstärken oder nivellieren. Macht es beispielsweise einen Unterschied, wenn die uneindeutige religiöse Lebensführung und Identität von Konvertit*innen vom Judentum zum Christentum im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit Männern oder Frauen zugeschrieben wird? Verstärkt eine religiöse Uneindeutigkeit die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern? Oder findet eine Art „Ansteckung“ statt, so dass durch die religiöse Ambiguität auch die Unterscheidung zwischen Mann und Frau ambiguiert wird?
Diesen und verwandten Fragen gehen wir in kollaborativen Arbeitsstrukturen nach. Die einzelnen Teilprojekte verfassen knappe „Data Stories“. In ihnen wird Material aus den Settings präsentiert, in groben Zügen kontextualisiert und auf das in ihm enthaltene Ambiguitätsphänomen hin befragt. Diese Data Stories werden dann in einem zweiten Schritt vergleichend zueinander in Beziehung gesetzt. Auf diese Weise will die Forschungsgruppe einerseits ausgehend vom Material einen methodisch kontrollierten Weg von der Detail- zur Gesellschaftsdiagnose beschreiten, um zu Aussagen mittlerer Reichweite über Ambiguität und den Umgang mit ihr in verschiedenen vormodernen und modernen Settings zu kommen. Andererseits zielt diese Vorgehensweise auf eine experimentelle Weiterentwicklung kollaborativer Arbeitsformen in den Geisteswissenschaften ab, die uns gerade dem Phänomen der Ambiguität angemessen zu sein scheint.