Die Grenzen des "regional democracy engineering": ECOWAS und der Niger-Putsch
Christof Hartmann
16.11.2023
Ende Juli 2023 schaffte es ein afrikanischer Militärputsch in unsere Hauptnachrichten. Die erhöhte Aufmerksamkeit für den Staatsstreich in der westafrikanischen Republik Niger hatte zwei wesentliche Ursachen. Zum einen war in Niger ein großes deutsches Militärkontingent stationiert, zum anderen beschloss die Regionalorganisation ECOWAS, der alle 15 westafrikanischen Staaten angehören, nicht nur Wirtschaftssanktionen, sondern drohte auch mit militärischer Intervention, sollten die Putschisten die verfassungsmäßige Ordnung nicht unmittelbar wiederherstellen. Warum aber konnten im Niger Demokratie und Verfassungsordnung von den regionalen Akteuren nicht mit friedlichen Mitteln effektiv verteidigt werden? Im Rahmen eines Forschungsprojekts befassen wir uns mit unterschiedlichen nicht-militärischen Interventionspraktiken afrikanischer Regionalorganisationen. Im Niger lassen sich danach die Grenzen des regional democracy engeneering recht gut ablesen: Der ECOWAS fehlte ein ausreichendes Mandat, um auf innenpolitische Fehlentwicklungen unterhalb der Schwelle eines Militärputsches Einfluss zu nehmen; zusätzlich fehlte es im Niger und der Region an proaktiver Demokratieförderung.
Keine einfachen geopolitischen Muster im Fall Niger
Sowohl der Putsch selbst als auch die harte Reaktion der ECOWAS wurden in der internationalen Öffentlichkeit schnell entlang simpler geopolitischer Schemata interpretiert. Der Putsch spiegele die Abkehr eines weiteren Sahelstaats von seinen bisherigen westlichen Verbündeten und die Hinwendung zu Russland, und die Intervention der ECOWAS sei der Versuch des Westens, diesen Schritt notfalls mit Gewalt zu verhindern. Aus wissenschaftlicher Perspektive sind diese Einschätzungen zwischenzeitlich vielfach widerlegt worden. Der Putsch in Niger resultierte aus Machtkämpfen zwischen der gewählten Regierung und einem Teil der Armee. Das Militärregime hat dann in einem zweiten Schritt die antifranzösische Stimmung in der Region genutzt, um den Putsch als patriotische Selbstverteidigung gegenüber westlicher Dominanz zu legitimieren. Dieses Narrativ konnte sich im Niger durchsetzen, weil für die französische Regierung jahrzehntelang ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen im Land im Vordergrund gestanden hatten, und zudem in den sozialen Medien der Region schon seit Jahren ein hohes Maß an Falschinformationen kursierte. Dass die ECOWAS einfach einer französischen Agenda folgte, ist mit Blick auf die dort dominierenden Staaten wie Nigeria und Ghana wenig plausibel, selbst wenn Frankreich vermutlich Einfluss auf verbleibende frankophone Verbündete in der Region genommen hat.
Die interventionistische Demokratieschutz-Agenda der ECOWAS
Was die ECOWAS betrifft, war ihr Vorgehen weniger überraschend als zunächst behauptet. Ihre Reaktion folgte zunächst dem normativen Rahmen, den sich die Regionalorganisation vor mehr als 20 Jahren gegeben hatte, wonach Staatsstreiche in Mitgliedsstaaten nicht zu akzeptieren sind, und entsprechend verurteilt und sanktioniert werden müssen. Hierfür war in der Region der Begriff des unconstitutional change of government (UCG) geprägt worden, um zu signalisieren, dass neben dem Militär der Verfassungsordnung auch Gefahr durch Politiker droht, die Wahlen manipulieren, um an der Macht zu bleiben. In den einschlägigen Protokollen war schon damals festgehalten worden, dass ECOWAS eine ganze Palette von Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung steht, die von diplomatischen Instrumenten (wie der Suspendierung von Mitgliedschaftsrechten) über Wirtschaftssanktionen bis zu Militärinterventionen im Extremfall reicht. Nachdem die ECOWAS in den vergangenen Jahren bereits zweimal bei Verfassungskrisen sehr konkret mit dem Einsatz des Militärs gedroht hatte (Côte d’Ivoire 2010-1, Gambia 2016-7), und in Gambia 2017 auch regionale Militäreinheiten an der Grenze aufmarschieren ließ, kann das Vorgehen der ECOWAS in der Niger-Krise nicht völlig überraschen, selbst wenn die Organisation bei den in den Vorjahren erfolgten Putschen in Mali, Guinea und Burkina Faso es bei Sanktionen belassen und keine militärischen Drohungen ausgesprochen hatte. Dass die ECOWAS dieses Mal sofort mit der massivsten aller möglichen Zwangsmaßnahmen drohte, hatte zwei Ursachen: Innerhalb der ECOWAS waren zwischenzeitlich interventionistischere Akteure in die entscheidenden Positionen gelangt, und die regionalen Eliten hatten sich das Scheitern der bisherigen Sanktionspolitik in Mali, Burkina Faso und Guinea eingestanden.
Anders als in Gambia 2017 ließen sich die lokalen Machthaber und die Armee Nigers aber dieses Mal von der Drohkulisse nicht beeindrucken. Während Sanktionen als Druckmittel aufrechterhalten wurden, blieb trotz aller gegenteiligen Ankündigungen eine militärische Intervention aus, und die ECOWAS hat vielmehr begonnen, mit den Putschisten über eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung zu verhandeln. Einige Gründe hierfür liegen auf der Hand: Eine Streitmacht, die in Niger hätte einmarschieren können, stand nicht bereit, und weder unter den Armeen noch den politischen Eliten oder Bevölkerungen der restlichen ECOWAS-Mitgliedsländer gab es wirkliche Unterstützung für einen Militäreinsatz. Aus unserer Forschung ergeben sich zwei zentrale Argumente, warum ECOWAS in dieses Dilemma geraten konnte:
Ein nur auf dem Papier beeindruckendes Mandat
ECOWAS als Organisation hat zwar ein beeindruckendes Regelwerk entwickelt, unklar bleibt jedoch, mit welchen Strategien politische Entwicklungen, die auf einen Verfassungsbruch hindeuten, frühzeitig politisch bearbeitet werden könnten. Seit mehreren Jahren wurde über eine Verstärkung des regionalen Demokratieprotokolls verhandelt, aber alle Vorschläge scheiterten letztlich an einer kleinen Minderheit von reformblockierenden Staatschefs. Während das Protokoll strenge demokratische und rechtsstaatliche Standards formuliert, die die Mitgliedsstaaten zu erfüllen haben, fehlt der ECOWAS Kommission - jenseits von Wahlbeobachtung - das Mandat, die Einhaltung dieser Standards öffentlich einzuklagen. Über Jahre hinweg wurde ein beeindruckendes regionales Frühwarnsystem aufgebaut, das krisenpräventiv zahlreiche Daten aus Mitgliedsstaaten erfasst. Diese Informationen werden dann aber gerade bei politischen Konflikten und Verfassungskrisen zu wenig in präventive Strategien übergeführt, weil es den Regierungschefs am politischen Commitment fehlt.
Die demokratische Basis in den Mitgliedsstaaten fehlt
Das fehlende Commitment spiegelt sich in der schleichenden Erosion demokratischer Institutionen in der Region. Dies gilt nicht nur für die Sahelstaaten Mali und Burkina Faso, wo nicht nur die Demokratie, sondern politische Ordnung insgesamt in Frage gestellt wird. Auch in den westafrikanischen Küstenstaaten, in denen es keine jihadistische Bedrohung gibt, sind demokratische Institutionen und Errungenschaften immer mehr gefährdet. In Staaten wie Côte d’Ivoire, Senegal, Benin oder Sierra Leone bauen präsidentielle Regierungsparteien oder -koalitionen ihre Dominanz immer weiter aus, werden innenpolitische Opponenten durch Gerichtsverfahren ausgeschaltet und der Spielraum für kritische Journalist*innen und zivilgesellschaftliche Akteure verengt. Es gilt aber auch für Nigeria, das mehr als alle anderen Staaten für ein hartes Vorgehen gegenüber den Putschisten eintrat, dessen Präsident selbst aber in höchst umstrittenen Wahlen ins Amt gekommen war.
Wenn sich die herrschenden Eliten in fast allen ECOWAS Mitgliedsstaaten im Alltag immer weniger auf demokratische Spielregeln verpflichten lassen, wird es schwierig, die Einhaltung dieser Regeln in anderen Staaten einzufordern. Dies haben die Putschistenregime sehr gut verstanden, indem sie auf die ebenfalls nicht tadellose Regierungsführung des von ihnen abgesetzten gewählten Präsidenten von Niger verwiesen. Einerseits werden die zivilen Regierungen der ECOWAS-Mitgliedsstaaten ein Eigeninteresse daran haben, dass Militärputsche nicht zur Norm in der Region werden. Anti-Coup Normen werden daher aufrechterhalten. ECOWAS war im globalen Maßstab die Regionalorganisation mit dem wehrhaftesten Demokratieschutz. Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen die Grenzen eines solchen regional democracy engineering auf: Demokratieschutz und -förderung durch regionale Organisationen kann nicht allein auf starken Rechtsnormen beruhen, sondern braucht eine proaktive und umfassende regionale Demokratieagenda, die über den Schutz gewählter Amtsinhaber hinausgeht, und eine starke demokratische Basis in den Gesellschaften und Regierungen der Region, die dieser Agenda Glaubwürdigkeit verleiht.
Autor
Christof Hartmann, INEF-Direktor