Eskalation und Deeskalation im Ukraine-Krieg
Tobias Debiel, Herbert Wulf
14.3.2022
Für die Eskalation im Ukraine-Konflikt gibt es spätestens seit 2021 einen klaren Verantwortlichen, der sich auch mit Namen benennen lässt: Russlands Präsident Putin. Er hat die Möglichkeiten einer friedlichen Streitbeilegung im unmittelbaren Vorfeld der Aggression durch eine martialische und zynische Kriegsrhetorik vereitelt. Nicht nur die Demilitarisierung der Ukraine wird angestrebt, sondern ihr sogar das Existenzrecht abgesprochen. Hinzu kommt der bodenlose Begriff der „Entnazifizierung“ und die nur mühsam codierte Drohung mit der nuklearen Eskalation, sollte sich der Westen der Invasion in den Weg stellen. Mit dem Kriegsbeginn wurde die Eskalation operativ und rhetorisch weitergetrieben, als er die Alarmbereitschaft der sog. Abschreckungskräfte erhöhte und die Sanktionen des Westens mit einer Kriegserklärung gleichsetzte.
Die klare Verantwortlichkeit für die derzeit hoch eskalierte Lage darf aber nicht davon abhalten, die Genese des Konflikts nüchtern zu analysieren, um Wege aus der Krise zu finden. Und sie sollte auch nicht die Einsicht trüben, dass wir uns in einer durch die nukleare Dimension brandgefährlichen Eskalationsdynamik befinden, an der beide Seiten beteiligt sind. Die klare Attribution der derzeitigen Verantwortlichkeit und die Asymmetrie bei der Verteilung „politischer Schuld“ führt zu der Versuchung, sich seitens des Westens moralisch überlegen zu fühlen und das eigene Handeln stets für rational und normativ gerechtfertigt zu halten. So wichtig die eigene moralische Selbstvergewisserung ist, so bedeutsam ist es auch, sich für Forschungserkenntnisse zur Konflikteskalation zu öffnen, die ihren eigenen Dynamiken folgt.
Hoch eskalatierter Konflikt
Eskalations-Theoretiker in den 1960er Jahren (Kahn 1965) beschrieben das Bild einer Eskalationsleiter und versuchten, Regierungen Optionen für Entscheidungen auf jeder Stufe der Eskalation aufzuzeigen. Zurzeit befinden wir uns eindeutig in einer Phase der zunehmenden Eskalation. Die heutige Konfliktforschung zeigt auf, dass Eskalationsfallen zu beidseitig unerwünschten Ergebnissen führen können, die bei einer Beteiligung von vier Atommächten verheerende Folgen hätten.
Friedrich Glasl (2011: 127-128) hat die im deutschsprachigen Raum wohl bekannteste Eskalationsleiter entwickelt, deren heuristische Kraft auch für den Ukraine-Konflikt und –Krieg eindrucksvoll ist. Er unterscheidet folgende neun Stufen:
1. Verhärtung
2. Debatte, Polemik
3. Taten statt Worte
4. Images und Koalitionen
5. Gesichtsverlust
6. Drohstrategien
7. Begrenzte Vernichtungsschläge
8. Zersplitterung
9. Gemeinsam in den Abgrund.
Eskalationen bezüglich des Ukraine-Krieges finden auf verschiedenen Feldern statt: politisch, ökonomisch und militärisch. Politisch wird die Eskalation vor allem bei der Schuldzuweisung für den Konflikt betrieben. Propaganda und Desinformation führen in Russland zu einem völlig anderen Bild als in der Ukraine und im Westen. Ökonomisch stehen die Sanktionen im Mittelpunkt der Eskalation. Die höchst-mögliche Stufe der Eskalation (finanziell: SWIFT, Rohstoffimportstopp auf Seiten des Westens und Rohstoffexportstopp Russlands) ist noch nicht erreicht. Hier ist nicht der Ort, auf die bisherige militärische Eskalation ausführlicher einzugehen. Es reicht zu sagen: Wir befinden uns mit Blick auf den Ukraine-Krieg und die entsprechende Konfrontation zwischen Russland, zunehmend mehr auch Belarus und dem Westen mittlerweile eindeutig auf Stufe 7. Die militärische Situation bis zu dieser Stufe ist eindeutig durch das Agieren Russlands eskaliert. Bei allen Unterschieden zwischen den Konfliktparteien gibt es auf beiden Seiten Narrative, die dem Anderen die „menschliche Qualität“ absprechen, „begrenzte Vernichtungsschläge als ‚passende Antwort‘“ sehen und bereits einen „relativ kleinere(n) eigene(n) Schaden (...) als Gewinn“ einschätzen, um sich hier wörtlich an Glasl (2011: 128) anzulehnen.
Mit der oben angesprochenen „nuklearen Erpressung“ nähert sich die russische Führung bereits der Stufe 9 (Gemeinsam in den Abgrund), die „Vernichtung zum Preis der Selbstvernichtung“ impliziert. Aber auch der Westen zielt mit dem Hochschrauben der Sanktionen nicht auf eine Deeskalation, nähern sich die derzeitigen Zielsetzungen doch allzu offensichtlich der Stufe 8 (Zersplitterung) an, die abzielt auf das „Paralysieren und Desintegrieren des feindlichen Systems“.
Überholte Metapher vom Kalten Krieg
Der erste Kalte Krieg, der mit der Implosion der UdSSR endete, schien das in dem vielsagenden Kürzel MAD (Mutually Assured Destruction) symbolisierte Paradox zu bestätigen, dass angesichts von Nuklearwaffen die von ihnen diktierte Rationalität (riskiere nicht Deine eigene Vernichtung!) „irre“ gut, sprich: wirksam sei. Die Erkenntnis, dass gegenseitig gesicherte Vernichtung einen militärischen Sieg unmöglich machte, war aber gleichzeitig die Voraussetzung für Deeskalation und die daraus folgende Entspannungspolitik. Doch das Gleichgewicht des Schreckens funktionierte nur unter recht präzise benennbaren Annahmen:
1. Beide Seiten verhielten sich zumindest seit dem Ende der Kuba-Krise kalkulierbar.
2. Die Kommunikationskanäle wurden gepflegt, um einen „Weltkrieg wider Willen“ (Dieter S. Lutz 1981) zu verhindern.
3. Die Abschreckung war eingebunden in eine Politik der gewollten Interdependenz, damit nicht die eine der anderen Seite auf nicht-militärische Weise einen existentiellen Schaden zufügen kann.
4. Rüstungskontrolle flankierte die gefährliche Hochrüstung über wechselseitige Obergrenzen, die Beschränkung technologischer Möglichkeiten und vertrauensbildende Maßnahmen.
5. Es gab eine Übereinkunft, dass im Ost-West-Verhältnis zumindest eine friedliche Koexistenz angestrebt werden müsste.
Viele sprechen heute von einem erneuten Kalten Krieg. Doch die Metapher erscheint angesichts des aktuellen Zustands überholt, wie sich anhand der fünf Voraussetzungen des nicht heiß werdenden Kalten Krieges zeigen lässt. Am stärksten sticht hervor: Die hasardeurhafte Logik Putins entspricht nicht mehr dem risikoaversen, sehr berechenbaren Kalkül der KPdSU-Apparatschiks seit Leonid Breschnew. Aber es bröckelt auch an den Voraussetzungen 2 bis 5.
Für eine Politik der Deeskalation
Das Gebot der Stunde ist von daher, bei einer gleichzeitigen Politik der Stärke vom Westen her auch Deeskalation zu ermöglichen. Dies bedeutet sechserlei:
1. Die wirtschaftlichen Sanktionen müssen Russland hart treffen. Sie sollten jedoch nicht auf den Zerfall eines Systems zielen, das völlig in die Ecke gedrängt eine „Lust am Selbstmord, wenn auch der Feind zugrunde geht“ (Glasl 2011: 128) entwickeln könnte. Hinzu kommt: Die Versuche des „regime-change“ haben sich schon in wesentlich kleineren Ländern (Afghanistan, Irak) als untaugliches Mittel erwiesen.
2. Ein Grundpfeiler der Entspannungspolitik („Wandel durch Handel“) hat sich teilweise als Bumerang erwiesen. Die These aus den 1970er Jahren, dass ökonomisch eng miteinander verflochtene Länder mit antagonistischen Systemen eher dazu neigen, zu kooperieren als Konflikte militärisch auszutragen (Keohane und Nye 1977), erweist sich im Falle des Ukraine-Krieges als zweischneidiges Schwert. Die ökonomische Abhängigkeit von Russlands Gas, Erdöl und Kohle bedeutet Verletzlichkeit und Erpressbarkeit. Dies stellt einen Bremsklotz für die weitere Eskalation ökonomischer Zwangsmaßnahmen auf Seiten des Westens dar. Zugleicht engt die Verwundbarkeit damit aber auch Handlungsspielräume für entschlossene Strafmaßnahmen unterhalb der militärischen Schwelle ein.
3. Über die Lieferung von Defensivwaffen hinaus ist die militärische Unterstützung der Ukraine ein Spiel mit dem Feuer und das Klettern auf die nächste Stufe der Eskalationsleiter. Dies gilt insbesondere für die zeitweise diskutierte Entsendung polnischer MIG 29-Kampfflugzeuge. Allein deren logistische Verbringung in die Ukraine würde gefährlich die Schwelle zu einer unmittelbaren NATO-Kriegsbeteiligung streifen.
4. So verständlich der ukrainische Wunsch nach Flugverbotszonen aus humanitärer Sicht ist, so klar ist auch: Dies wäre der unmittelbare Kriegsbeitritt der NATO-Staaten – mit allen möglichen beschriebenen Folgen.
5. Für morgen und übermorgen muss ein Paket geschnürt werden, das die Mindestvoraussetzungen für nukleare Abschreckung enthält: Rückkehr zu mehr Berechenbarkeit, kein Abbruch diplomatischer Beziehungen, eine deutliche Reduktion, aber kein völliges wechselseitiges Entkoppeln der Ökonomien, Diskussion über Möglichkeiten der Rüstungskontrolle (Verlegung von Waffensystemen an die Grenze, Nuklearwaffen in Belarus), KSZE-artiges Format für die Perspektive einer Gemeinsamen Sicherheitsstruktur in Europa.
6. Daraus abgeleitet folgt Deeskalation, Vertrauensbildung, Rüstungskontrolle und Abrüstung. Diese Maxime hat eine wichtige psychologische Komponente: „Deeskalation beginnt in den Köpfen“. So sehr es innenpolitisch nahezuliegen scheint, nun auf das „Böse“ zu verweisen, so wenig bringen uns manichäische Weltbilder weiter. Bei aller Klarheit der Worte: Dämonisierung und Demütigung ebnen nicht den Weg zum Verhandlungstisch.
Natürlich ist es heute, da der Krieg noch in vollem Gange ist, zu früh für eine neue Entspannungspolitik. Die Voraussetzungen sind derzeit schlecht. Doch die Geschichte der Entspannungspolitik zeigt, dass die Bedingungen für deren Erfolg in den 1970er und 1980er Jahren ebenso wenig erfolgversprechend zu sein schienen. Trotz der gegenseitigen atomaren Bedrohung, der Blockkonfrontation, der Teilung Deutschlands und der ideologischen Systemkonkurrenz gelang es aber, zumindest in Ansätzen Spannungen abzubauen und zu vertraglichen Regelungen zu kommen. Das heißt, die heute gelegentlich als unauflösliche Konfrontation angesehene Situation sollte nicht dazu führen, ausschließlich auf militärische Mittel zu setzen.
Verwendete Quellen
Glasl, Friedrich. 2011. Konfliktmanagement, in: Berthold Meyer (Hg.), Konfliktregelung und Friedensstrategien: Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 125-145. https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_downloads/Glasl_fertig.PDF (09.03.2022)
Kahn, Hermann. 1965. On Escalation. Metaphors and Scenarios, London: Pall Mall Press.
Keohane, Robert O. und Joseph S. Nye. 1977. Power and Interdependence, Springer, Boston.
Lutz, Dieter S. 1981. Weltkrieg wider Willen? Reinbek: Rowohlt.
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