Inklusiver Multilateralismus anstatt Multistakeholderismus - Lösung der Ernährungskrise nur mit Betroffenen möglich

blog-food-neu-laengs
50. Plenarsitzung des Committee on World Food Security (CFS) im Oktober 2022 | Foto CFS

Roman Herre
12.6.2023

Menschenrechtsbasierte, inklusive und partizipative Ansätze in der internationalen Politik fallen nicht von Himmel. Im Gegenteil, sie müssen immer wieder von der Zivilgesellschaft erkämpft und gegen Tendenzen zu exklusiveren Politiken, die vor allem starke Partikularinteressen vertreten, verteidigt werden. Der Welternährungsausschuss (Committee on World Food Security, CFS) ist ein solcher inklusiver Ansatz, den es – gerade angesichts der aktuellen multiplen Krisen – gegen sogenannte Multistakeholder-Ansätze zu verteidigen gilt.

Wo kommen wir her? Zur Herausbildung eines inklusiven Multilateralismus in der globalen Ernährungspolitik

Der Welternährungsgipfel 1996 nannte erstmals und auf Druck einiger Länder und der Zivilgesellschaft das Menschenrecht auf Nahrung als zentralen Politikansatz bei der Hungerbekämpfung. Von 2002 bis 2004 wurden dann im CFS Leitlinien zum Recht auf Nahrung verhandelt, erstmals mit einer Beteiligung der Zivilgesellschaft.

Als die Welt dann 2008 – 2009 in eine Nahrungsmittelpreiskrise geriet – Stichwort ‚Hungeraufstände‘ –, wurde der CFS reformiert. Heute wird er als „foremost inclusive intergovernmental and international platform on food security and nutrition” benannt. Er ist sehr inklusiv, da alle relevanten Akteure mit am Tisch sitzen, jedoch mit besonderer Beachtung der von Hunger bedrohten Gruppen. Über den Zivilgesellschafts- und Indigenenmechanismus CSIPM bringen diese ihre Stimme in den CFS mit ein. Er ist die größte globale Plattform der Zivilgesellschaft im Bereich Ernährung. Die beteiligten Organisationen haben mehr als 380 Millionen Mitglieder. Die elf Gruppen im CSIPM sind Kleinbauernorganisationen, Indigene, Frauen, Jugendvertretung, Pastoralist*innen, Kleinfischer*innen, Land- und Ernährungsarbeiter*innen, Landlose, Konsument*innen, städtische Armutsgruppen und Nichtregierungsorganisationen. Zudem wurde die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung als zentrale CFS-Vision verankert.  Der Ausschuss hebt dabei eine menschenrechtliche Perspektive hervor, er weist dem Staat Pflichten und den Betroffenen Rechte zu.

Der Welternährungsausschuss hat sich bewährt

Seither hat sich der CFS als die weltweit breiteste Plattform der Regierungen, der UN-Institutionen, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft für Ernährungssicherheit bewährt. Deutschland hat immer eine klar unterstützende Position zum CFS vertreten, besonders wenn es um dessen Mandat, Bedeutung und menschenrechtliche Basis ging. Meilensteine des Völkerrechts, wie die Landleitlinen 2012, wurden dort verhandelt. Sie sind bis heute die zentrale Referenz für eine menschenrechtsbasierte Landpolitik.

Gelegentlich hört man von Kritiker*innen des CFS, er sei ein Debattierclub und nicht effektiv. Dies basiert jedoch auf einer falschen Annahme. Der CFS ist keine Umsetzungsorganisation, sondern ein Gremium, in dem internationale Politiken aufeinander abgestimmt werden. Der CFS hat bewusst keine Instrumente und erst recht kein Budget, um dort beschlossene Empfehlungen umzusetzen. Daher ist solche Kritik – gerade wenn sie von Regierungen kommt – umgehend an diese zurückzugeben. Mangelnde Umsetzung der CFS-Politiken ist auf den Unwillen von Regierungen zurückzuführen, diese anzuwenden.

Rechtebasierter Ansatz unter Beschuss

Weil einigen Staaten die Ergebnisse inklusiver Verhandlungen im CFS nicht passen, haben sie begonnen undemokratische Alternativen aufzubauen. Über sogenannte Multistakeholder-Prozesse werden Gruppen zusammengestellt, die über globale Politikentwicklungen entscheiden sollen, dabei aber oft konzernnahe Interessen vertreten. Prominentes Beispiel war der UN Food Systems Summit 2021. Strategien der Rechteinhabenden, wie Ernährungssouveränität oder das Recht auf Nahrung, blieben hier bestenfalls Schlagworte. Der UN-Sonderberichterstatter zum Recht auf Nahrung und weitere wichtige Akteure sind deswegen im Vorlauf aus dem Gipfel ausgestiegen. Auch wurde der Gipfel nicht von der UN-Vollversammlung verabschiedet wie frühere Welternährungsgipfel, sondern allein vom UN-Generalsekretär, welcher nebenbei im Juni 2019 ein strategisches Partnerschafts-Abkommen mit dem privaten Weltwirtschaftsforum abschloss.

Inklusiver Multilateralismus anstatt Multistakeholderismus

Die globale Governance der Ernährungssicherheit steht in diesen Zeiten multipler Krisen vor enormen Herausforderungen: Schon vor Corona wurde klar, dass es ohne eine echte Transformation der Ernährungssysteme unmöglich sein würde, die nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) und insbesondere das SDG 2 (‚Kein Hunger‘) zu erreichen. Eine massive Kurskorrektur, weg von industriellen, konzerninteressensgetriebenen Ernährungssystemen war und ist unumgänglich.

Die Erschütterungen des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine haben die ganzen strukturellen Schwächen des bisher dominierenden Ernährungssystems mit seinen vielen Abhängigkeiten und extrem langen Lieferketten noch sichtbarer gemacht. Es ist Zeit zum Handeln, für eine demokratische Stärkung der öffentlichen Institutionen und der Governance-Modelle des inklusiven Multilateralismus.

Für diese dringend notwendigen Kurskorrekturen müssen vier zentrale Kriterien den Kompass bilden:

  • Ein konsequenter Menschrechtsansatz und Zentralität der Rechteihabenden;
  • Öffentliches Interesse vor Konzerninteressen;
  • Agrarökologische Transformation der Ernährungssysteme;
  • Stärkung und Demokratisierung des inklusiven Multilateralismus.

Im CFS sind es trotz aller Inklusivität letztendlich die Staaten, die über die Annahme oder Ablehnung von Empfehlungen oder Leitlinien entscheiden – ein Land, eine Stimme. Bei den Multistakeholder-Ansätzen hingegen geben sie ihre Entscheidungsmacht ab, agieren gerne als Moderatoren. Betroffenengruppen sind, wenn sie überhaupt beteiligt sind, einem starken Machtgefälle gegenüber Interessensverbänden ausgeliefert. Zivilgesellschaft und Wissenschaft sprechen auch von Corporate Capture, also der Vereinnahmung durch starke privatwirtschaftliche Interessen. Der inklusive Multilateralismus des CFS darf daher nicht durch diffuse und intransparente Multistakeholderplattformen, wie in einem aktuellen Bericht beschrieben, ersetzt werden.

Dieser Beitrag ist aus den Potsdamer Frühjahrsgesprächen 2023 hervorgegangen, die von der sef: Ende April in Kooperation mit der GIZ zum Thema "Ernährungssicherheit in Afrika in Zeiten globaler Krisen" durchgeführt wurden.

Autor

Roman Herre Agrarreferent, Fian Deutschland