Kalter und heißer Krieg
Tobias Debiel
1.3.2022
Der Schock sitzt tief, Wladimir Putins Russland hat mit seiner groß angelegten Aggression die schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Seine martialische und zynische Kriegsrhetorik übertraf das, was kritische Beobachter vorhergesehen haben. Nicht nur die Demilitarisierung der Ukraine wird angestrebt, es wird ihr sogar das Existenzrecht abgesprochen. Hinzu kommt der bodenlose Begriff der „Entnazifizierung“ und die nur mühsam kodierte Drohung mit der nuklearen Eskalation, sollte sich der Westen der Invasion in den Weg stellen.
Was ist bei solcher Brutalität der richtige Weg? Wie lässt sich umgehen mit einem zum Despoten mutierten Herrscher, der unverhohlen das Völkerrecht bricht und imperialistische Ansprüche stellt? Gut zwanzig Jahre nach dem 11. September 2001 und mehr als drei Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer stehen wir vor der dritten Zeitenwende seit dem Kalten Krieg. Drei Dinge sind erforderlich: Erstens eine schonungslose Lageanalyse, bei der auch eigene Irrtümer eingeräumt werden. Zweitens ein klares Zeichen der Stärke, das über Symbolpolitik hinausgeht. Drittens aber auch das nachdrückliche Bemühen um Deeskalation in einer Situation, die Nüchternheit statt moralischem Überlegenheitsgefühl erfordert.
Wie lässt sich umgehen mit einem zum Despoten mutierten Herrscher, der unverhohlen das Völkerrecht bricht und imperialistische Ansprüche stellt?
Es scheint müßig, rückblickend über Irrtümer nachzudenken. Doch führt kein Weg daran vorbei, will man die Ursachen des Krieges entschlüsseln und eine weitere Eskalation über die Ukraine hinaus verhindern. Die Fehltritte des Westens sind in extenso thematisiert worden. Zweifache politische Unvernunft war im Spiel, als die NATO erstens nicht alle notwendigen Anstrengungen unternahm, um nach dem Ende des Kalten Krieges eine europäische Friedensordnung unter Einbezug Russlands anzustreben. Und zweitens, als sie auf ihrem Gipfel in Bukarest 2008 die Türen für eine Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine öffnete. Einem gefährlichen Überlegenheitsdenken zu verdanken sind die Versuche, der Nuklearmacht Russland einen Regionalstatus zuzuschreiben und sie im Libyen-Krieg zu hintergehen, wo sie doch schon bei den völkerrechtswidrigen Kriegen im Kosovo und im Irak in eine Zuschauerrolle gedrängt worden war. Und warum wurde kein Moratorium für weitere NATO-Beitritte verkündet, als klar wurde, dass sich Putin 2021/22 selbst in eine Eskalationsfalle gebracht hatte? Ob ein Moratorium noch genutzt hätte, wird sich nie sagen lassen. Aber einen Versuch wäre es wert gewesen.
Legion sind zugleich auch die Irrtümer auf Seiten der Moskauer Führung, die man nicht allein auf Putin reduzieren sollte. Es beginnt mit dem nur widerwilligen Akzeptieren, dass die Ordnung von Jalta mit dem Fall der Berliner Mauer passé war. Und es setzt sich fort mit dem Versuch, in der Kombination aus sowjetisch anmutendem, innenpolitischen Kontrollwahn und einem oligarchischen Kapitalismus ein zukunftsfähiges Gesellschaftsmodell zu zimmern. Nicht zuletzt scheint der russische Erfolg bei der Aufrechterhaltung des Assad-Regimes in Syrien – verbunden mit dem westlichen Debakel in Afghanistan – dem Kreml zu Kopf gestiegen zu sein.
Die Grenzen zwischen kaltem und heißem Krieg sind zunehmend verschwommen.
Viele bezweifelten, dass wir uns spätestens seit der Krim-Annexion in einem erneuten Kalten Krieg befinden. Nun lenken die Skeptiker ein. Allerdings in einer Zeit, in der die Metapher vom Kalten Krieg den aktuellen Zustand nicht mehr trifft und überholt ist: Zum einen erleben wir in Europa einen seit 1945 beispiellosen Angriffskrieg. Zweitens entspricht die hasardeurhafte Logik Putins nicht mehr dem risikoaversen, sehr berechenbaren Kalkül der KPdSU-Apparatschiks in der Post-Stalin-Ära, obwohl Putin mehrheitlich unterstellt wurde, ein kühler Stratege zu sein. Drittens hat sich aber auch im Westen einiges geändert: Mit Donald Trump wurden die USA über Jahre zum Sinnbild von Unberechenbarkeit aus Kalkül und gewaltkodierter Rhetorik, deren Parallelen zu den jüngsten Reden Putins frappierend sind. Und viertens gibt es China, das für den Fall der sich anbahnenden, sanktionsbewehrten Ost-West-Eiszeit eine Ausweichoption für das wirtschaftlich verwundbare Putin-Regime bieten könnte.
Die veränderten Rahmenbedingungen erlauben es nicht, sich einfach auf die Rezepte des ersten Kalten Krieges zurück zu besinnen. Sie waren weitgehend von wechselseitiger Berechenbarkeit geprägt, bei der beide Seiten in den vielfältigen Krisen die Eskalationsspirale behutsam vermieden und der Gesichtswahrung des Gegenübers Raum gaben. Davon sind wir heute in Zeiten der Echtzeit- und Onlinerhetorik Meilen entfernt. Hinzu kommt: Zum Austesten des Risikos und aufgrund technologischer Neuerungen sind die Grenzen zwischen kaltem und heißem Krieg zunehmend verschwommen. Es werden unterhalb der Schwelle des heißen Krieges Söldner privater Militärfirmen und paramilitärische Verbände eingesetzt. Die Verwundbarkeit auf beiden Seiten ist gestiegen – nicht nur wegen wirtschaftlicher Sanktionen, sondern auch im Bereich der Cyber-Kriegsführung.
Die Formel des Ost-West-Konflikts, Abschreckung mit Entspannung zu verbinden, reicht in einer akuten Krise nicht mehr aus.
Not tut in diesen Zeiten nüchterne Politik, die Spannungsverhältnisse aushält und von Maximalpositionen abrückt. Die neo-imperiale Denkweise des Putin-Regimes hat diesen Pfad der Rationalität verlassen. Dies war aber beim russischen Alleinherrscher nicht immer so. Und vorschnell sollte nicht die Chance aufgegeben werden, die Führung in Moskau zurückzuholen. Im Westen wird man aber nolens volens auf das Mantra verzichten müssen, alle willigen Staaten auch grundsätzlich in die NATO aufnehmen zu wollen. Dafür gibt es keine moralische Pflicht, und schon gar nicht einen verantwortungsethischen Imperativ. Verantwortungsvoller wäre, eine ökonomische und wertemäßige Integration (EU), aber Verzicht auf militärische Integration, wie es mit Schweden, Österreich und Finnland seit Jahrzehnten der Fall ist.
Die Formel des Ost-West-Konflikts, Abschreckung mit Entspannung zu verbinden, reicht in einer akuten Krise nicht mehr aus, da kurzfristiges Krisenmanagement über die langfristig angelegte Vertrauensbildung hinausgehen muss. Aber die Grundidee der Formel bleibt beachtenswert. Der Westen kommt an einem klaren Signal der Stärke nicht vorbei. Sanktionen gehören dazu, doch dürfen sie nicht dem Irrglauben erliegen, Russland ohne massive Gegenwehr wirtschaftlich in die Knie zwingen zu können. Die lange deutsche Zurückhaltung, dem Ausschluss aus dem SWIFT-System zuzustimmen, war insofern berechtigt. Der Westen ist zwar bei wirtschaftlichen Sanktionen haushoch überlegen. Doch wird Russland diesen Schritten voraussehbar mit weiteren Provokationen begegnen, die uns auf die nächste Leiter der Eskalationsspirale bringen. Und wer ist irgendwann noch in der Lage, die weiteren Zuspitzungen zu verhindern?
Bevor man nun den Haushalt erhöht, sollte klar sein, welche Aufgaben die Bundeswehr erfüllen soll.
Stärke bedeutet stattdessen, die Landes- und Bündnisverteidigung rasch auszubauen. Dazu gehört ein Aufstocken der Mittel, wie es von Olaf Scholz in Form eines Sondervermögens angekündigt wurde. Auf den Prüfstand gehören aber vorrangig die mangelnde strategische Debattenkultur und die strukturellen Ineffizienzen, die das Beschaffungswesen, aber auch den militärisch-industriellen Apparat prägen. Bevor man nun den Haushalt erhöht, sollte klar sein, welche Aufgaben die Bundeswehr erfüllen soll. Nicht zuletzt rächt sich, dass die Bundeswehr in den vergangenen zwei Jahrzehnten auf zum Scheitern verurteilte Interventionsabenteuer getrimmt wurde.
Signale der Stärke, die über das Symbolische hinausgehen, sind mithin unabdingbar. Aber der Westen sollte sich nicht daran berauschen. So schmerzhaft diese Erkenntnis heute ist: Sicherheit erreichen wir in Europa – und übrigens auch im Nahen Osten – nicht allein gegen Russland, sondern nur mit diesem Staat, der sich nicht in eine Paria-Rolle wird drängen lassen. Wer heute über das Ende der Diplomatie schwadroniert, muss offenlegen, was an deren Stelle treten sollte. Will man eine weitere Ausweitung des Krieges verhindern, bleibt es wichtig, die Gesprächskanäle nun nicht völlig abzubrechen.
Die Kunst der Diplomatie ist es, den nächsten Schritt zu denken und einzuleiten, auch wenn er im Moment der Zuspitzung aussichtslos erscheint.
Das deutsch-französische Tandem hat in der Zuspitzung der Krise nicht hinreichend funktioniert. Deutschland war unter der neuen Regierung noch kein ebenbürtiger Partner für das Frankreich des diplomatisch erfahrenen Emmanuel Macron. Außerdem gab es – trotz jahrelanger anderslautender Bekundungen – nie eine funktionierende Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Die Konsequenz war, dass Westeuropa das Krisenmanagement allzu oft den USA überlassen hat, die die Lage in Europa zwangsläufig mit anderen Augen sehen als die Regierungen und Bevölkerungen vor Ort. Es lohnt sich, über ein Paket nachzudenken, das Gemeinsame Sicherheit neu definiert. Eckpunkte sind durchaus greifbar: ein Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine im Gegenzug zu einem NATO-Aufnahmemoratorium; ein informelles Format, das in Analogie zur OSZE die künftige Sicherheitsarchitektur Europas berät; kein Abbruch diplomatischer Beziehungen; Verzicht auf scharfmacherische und demütigende Rhetorik.
Hilft uns das weiter, den Ukraine-Krieg zu beenden? Vielleicht nicht unmittelbar. Aber die Kunst der Diplomatie ist es, den nächsten Schritt zu denken und einzuleiten, auch wenn er im Moment der Zuspitzung aussichtslos erscheint. Den Versuch zu wagen, das ist der verantwortungsethische Imperativ, der sich aus einer Friedenslogik ergibt.
Dieser Beitrag ist zuerst im IPG-Journal erschienen.
Autor
Prof. Dr. Tobias Debiel
Raum: LF 324
Telefon: +49 (0203)-379-2021
E-Mail: tobias.debiel[at]uni-due.de
Mitarbeiterprofil