Tomke Hinrichs (ehemalige Kollegiatin)
Tomke Hinrichs war bis zum 30. April 2015 Kollegiatin des Graduiertenkollegs "Vorsorge, Voraussicht und Vorhersage: Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln" und gehört nun dem Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“, beheimatet an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, an.
Projektskizze „Experten in eigener Sache“ – Handlungsformen und Handlungsstrukturen der Autoren von „Irrenbroschüren“
Die Diagnose einer psychischen Erkrankung und die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt bedeuteten um 1900 für die Betroffenen die Versetzung in eine Situation der absoluten Unsicherheit. Mit ihrer Psychiatrisierung ging der Verlust der bürgerlichen Rechte einher – der „bürgerliche Tod“ –, was gleichbedeutend war mit einem Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben. Über 200 Patienten versuchten während der Zeit des Deutschen Kaiserreichs, sich gegen die von ihnen „erlittene“ Deutung von psychiatrischer Seite zur Wehr zu setzen. Sie verfassten dafür so genannte „Irrenbroschüren“ und stellten damit eine alternative Deutung ihrer Lage in der Öffentlichkeit zur Diskussion. Als „Psychiatrieerfahrene“ berichteten sie über die Zu- und Missstände in den Anstalten und stellten dabei – neben der Forderung nach einer Reform der Psychiatrie – die eigene (gesellschaftliche) Rehabilitation in den Vordergrund. Staatliches Handeln, welches zu ihrer Einweisung geführt hatte, wurde von den Betroffenen als Willkür empfunden, der es zum Schutz weiterer möglicher Opfer des Systems vorzubeugen galt. Die zuerst vereinzelten Schreiber von Broschüren, denen sich engagierte Juristen und Ärzte anschlossen, formierten sich nach und nach zu einer „Irrenrechtsreformbewegung“. Ihre zentralen Forderungen waren die Neuregelung der Entmündigungs- und Einweisungspraxis sowie das Aufdecken und Beseitigen von Missständen, beispielsweise Überbelegungen der Anstalten. Die Bewegung gründete mit dem „Bund für Irrenrechts-Reform und Irrenfürsorge“ eine eigene Interessenorganisation und gab ab 1909 die Zeitschrift „Die Irrenrechtsreform“ heraus, die unter anderem eine Publikationsplattform für die Broschüren darstellen sollte.
In der Studie soll das Handeln der verschiedenen Akteure genauer analysiert werden, die im Aushandlungsprozess zur Gesetzgebung und zur Frage der Deutungsmacht in der Psychiatrie beteiligt waren. Anhand von Broschüren, Krankenakten, Pressereaktionen und Protokollen aus Landtagsverhandlungen soll das Zukunftshandeln der Akteure untersucht werden. Der Betrachtungszeitraum der Studie reicht von den 1870er-Jahren bis in die 1920er-Jahre.
Eine psychiatrische Diagnose, die Einweisung in eine Anstalt und die dort erfahrene Behandlung wurden oftmals als kontingente Ereignisse erlebt, die nur schwer zu bewältigen waren. Das öffentliche Eintreten für die Reform von Entmündigungsverfahren und Anstaltswesen bildete einen aktiven, auf die Zukunft gerichteten Umgang der Betroffenen mit dieser Kontingenz. Das wissenschaftliche Projekt fragt danach, wie sich der Möglichkeitshorizont durch das Handeln der Betroffenen in Wechselwirkung mit anderen Akteuren veränderte und in welcher Weise die Praktiken der Reformbewegung auf politischer Ebene eine Wirkung zeigten. Anhand der einschlägigen Gesetzestexte soll gezeigt werden, inwieweit die Forderungen der Reformbewegung dort Widerhall fanden. Darüber hinaus soll eruiert werden, wie „Geisteskrankheit“ und „geistige Gesundheit“ von den verschiedenen Akteuren konstruiert und Verhaltensweisen pathologisiert wurden. An dieser Schnittstelle zwischen Individuum, Gesellschaft und Politik kann somit untersucht werden, wie die Autoren der „Irrenbroschüren“ ihren Handlungsspielraum erweiterten und wie sie als Akteure innerhalb der Reformbewegung den Möglichkeitshorizont insgesamt zu verschieben suchten.
Curriculum Vitae Lebenslauf
- Oktober 2005 – September 2010 Universität Bremen und Université de Rouen Bachelorstudium Geschichtswissenschaft, Frankoromanistik und Erziehungswissenschaften
- Oktober 2010 – November 2012 Technische Universität Dresden Masterstudium Geschichtswissenschaft
- Juli 2011 – Mai 2013 Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde Dresden Wissenschaftliche Hilfskraft Buchprojekt „Adlige Lebenswelten in Sachsen“ (Oktober 2013 erschienen)
- November 2012 – Mai 2014 Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz Wissenschaftliche Projektmitarbeiterin und Kuratorin der Erkerausstellung zu Salman Schocken (Forschungsaufenthalt in Israel im Juni/Juli 2013)
- November 2013 – April 2015 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Graduiertenkolleg 1919 „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage – Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln“ am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen
- Seit Mai 2015 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Graduiertenkolleg "Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung" an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg