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Projektskizze „Die Zukunft der Juden“. Jüdisches Bürgertum über Autonomie oder Untergang um 1900
Betreuung: Prof. Dr. Achim Landwehr
Lehrstuhlprojekt mit Förderung von Forschungsaufenthalten in Berlin, Potsdam und Jerusalem durch das GRK 1919 Vorsorge – Voraussicht – Vorhersage (Assoziierung)
„Wir haben es noch nicht erlebt: folglich ist es unmöglich – ist kein logischer Schluss.“ Mit diesem Talmudzitat leitet der deutsch-jüdische Mediziner Felix A. Theilhaber 1921 die zweite Auflage seiner 1911 erschienenen Studie Der Untergang der deutschen Juden ein. Eine solche Wahrnehmung von der Zukunft als zugleich unsicheren und offenen Horizont war paradigmatisch für die Stimmung im jüdischen Bürgertum des deutschen Kaiserreichs. Bedingt durch die jüdische Aufklärung und die Emanzipation hatte es einen rasanten wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg durchlebt, dessen Folgen jedoch auch neue Gefahrenperzeptionen erweckten. Die Geburtenraten in der deutsch-jüdischen Bevölkerung sanken und die Furcht vor einer vorgeblichen „Degeneration“ der deutschen Jüd*innen machte sich breit. Hinzu kam die Durch- und Einwanderung osteuropäischer Jüd*innen und eine neue Qualität der Judenfeindschaft – der moderne Antisemitismus, der sich wesentlich auch auf die osteuropäisch-jüdische Migration bezog.
Das Dissertationsprojekt rekonstruiert, wie Protagonist*innen des jüdischen Bürgertums im deutschen Kaiserreich versuchten, die als kontingent wahrgenommene Zukunft handelnd zu bewältigen und nimmt dabei wissenschaftliche und sozialpolitische Praktiken in den Blick, mithilfe derer die jeweiligen Akteursgruppen Zukunftsungewissheit bearbeiteten. Auf wissenschaftlicher Ebene beschäftigten sich deutsch-jüdische Mediziner, Demografen und Soziologen beispielsweise mit Fragen der Sicherung von Nachfolge, etwa mit der sogenannten Mischehenfrage oder der „Degeneration“ des jüdischen Körpers. Ein ähnliches Ziel verfolgten sozialpolitische jüdische Ferienkolonien, die Wöchnerinnenfürsorge und Säuglingsheime. Weitere Bereiche, für die vergleichend wissenschaftliche und sozialpolitische Praktiken und Diskurse analysiert werden, sind die jüdische Berufsstatistik und Berufsfürsorge sowie jüdische Demografie und Wandererfürsorge als auf die jüdische Gemeinschaft gerichtete Aktivitätsfelder. Die Studie erweitert die historische Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts um die Analyseperspektive des Zukunftshandelns und der Zukunftskonzepte. Zudem trägt sie zur Schärfung und Diversifizierung der Geschichtsschreibung über das jüdische Bürgertum bei, indem sie die Polarisierungen bzw. Binarität von Moderne/Tradition und Autonomie/Akkulturation kritisch reflektiert.